Schadensminderung in der Suchtmedizin

Organisationen
Ausgabe
2023/33
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21182
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(33):32-34

Affiliations
a Dr. med., Zentrum für Spielsucht, Suchtmedizin, Klinik für Psychiatrie, Universitätsspital Lausanne (CHUV), Collège romand de médecine de l’addiction; b Prof. Dr. med., Collège romand de médecine de l’addiction, Abteilung für Suchterkrankungen, Klinik für Mentale Gesundheit und Psychiatrie, Universitätsspital Genf; c Zentrum für Spielsucht, Suchtmedizin, Klinik für Psychiatrie, CHUV; d Groupement romand d’étude des addictions; e Dr. clin. psy., Zentrum für Spielsucht, Suchtmedizin, Klinik für Psychatrie, CHUV

Publiziert am 16.08.2023

Sucht Eine grosse Bedeutung in der Suchtmedizin hat die Schadensminderung. Sie gehört neben der Prävention, Behandlung und Regulierung zu den vier bewährten Säulen der Schweizer Drogenpolitik, heute Nationale Strategie Sucht genannt. Jedoch ist dieses Konzept der Schadensminderung in der Suchtmedizin nicht eindeutig definiert. Was sind seine Stärken und Schwächen?
In einer kürzlich erschienenen Publikation der Schweizerischen Ärztezeitung mit dem Titel «Die Bedeutung der Schadensminderung in der Suchtmedizin» wird daran erinnert, wie strukturierend das Konzept der Schadensminderung auf die Entwicklung der Suchttherapie gewirkt hat, insbesondere auf ihre medizinische Seite [1]. Der Nachteil ist jedoch, dass diesem Konzept, das seit 30 Jahren in der öffentlichen Drogenpolitik verankert ist, keine wissenschaftlich und rechtlich fundierte Definition zugrunde liegt.
In diesem Artikel soll versucht werden, mehr Klarheit in das Konzept der Schadensminderung im Zusammenhang von substanzgebundenen und ungebundenen Suchtstörungen zu bringen. Die folgenden Überlegungen stützen sich hierbei insbesondere auf das vorgängig vom Centre du Jeu excessif (CHUV) und vom Groupement romand d‘études des addictions (GREA) publizierte Sammelwerk «Harm Reduction for Gambling» [2].
Bei der Schadensminderung steht die Person im Mittelpunkt. Diese hat ein Recht auf Leben.
© Ben Wicks / Unsplash

Vom Streetwork zur Aidskrise

In den 1970er Jahren beschränkte sich die Schadensminderung auf einige lokale Initiativen, die von den Konsumierenden selbst sowie von Streetworkern ausgingen und deren Ziel es war, die negativen Folgen des Konsums psychoaktiver Substanzen zu mindern. Dazu gehörten insbesondere die Bereitstellung von sterilem Material und im Falle von Heroin der breite Zugang zur Verschreibung von Methadon während der AIDS-Krise in den 1980er und 1990er Jahren [3]. Man betrachtete diese Massnahmen als demokratische Pflichten, insbesondere das Recht auf Leben und das Recht auf Gesundheit. So entstand auf pragmatische Weise das Konzept der Schadensminderung und stellte die Person in den Mittelpunkt. Diese hat ein Recht auf Begleitung und Überleben, in dem Sinne, dass die Person möglicherweise «nicht willens oder in der Lage ist, auf den nichtmedizinischen Gebrauch von Substanzen zu verzichten» [2].

Unklare historische Definitionen

Erste Definitionen der Schadensminderung finden sich in institutionellen und regulatorischen Dokumenten von Beratungsdiensten für Menschen, die psychoaktive Substanzen konsumieren. Diese beziehen sich konkret auf diejenigen Personen, welche «noch nicht bereit sind», den Konsum dieser Substanzen aufzugeben [4]. Aus dieser Perspektive würde Schadensminderung jedes Politikkonzept oder jedes Programm betreffen, das darauf abzielt, die Gesundheit oder den sozialen Status von Konsumierenden zu verbessern, ohne hierbei auf die Reduzierung deren Konsums abzuzielen. Diese Definitionen erkennen somit die Tatsache an, dass manche Menschen nicht in der Lage sind, mit dem Konsum aufzuhören, aber sie betonen nicht ausdrücklich die Grundrechtsperspektive, welches der Entscheidung der Person und ihrer Verantwortung eine zentrale Rolle zuschreibt. So geht es nicht nur darum, ob jemand in der Lage ist, den eigenen Konsum zu reduzieren oder einzustellen, sondern aus einer nicht wertenden Perspektive auch darum, ob die Person dies tun möchte.
Im Gegensatz zu diesen frühen Definitionen, die sich eher auf die Zielgruppe als auf die Prozesse oder Ergebnisse der Schadensminderung konzentrieren, haben verschiedene Akteure des Gesundheitswesens vorgeschlagen, sich auf das letztendliche Ziel des Ansatzes zu konzentrieren. So schlugen Wodak und Saunders 1995 vor, dass der Begriff Schadensminderung den «Einsatz jeglicher Mittel zur Verringerung der durch illegale Drogen verursachten Schäden» umfassen könnte [5]. Dies hätte den Vorteil, dass die oben beschriebene Dichotomie überwunden wäre. Allerdings wirft eine solche Definition eine neue Frage auf: Wie kann man die Schäden messen und wissenschaftIliche Methoden entwickeln zur Berechnung des «Nettogewinns oder -verlusts einer bestimmten Politik oder eines bestimmten Programmes» [4]? Zwar gibt es solide wissenschaftliche Methoden zur Bewertung öffentlicher Massnahmen, doch beruhen diese in der Regel auf teuren Studien, die sich nur schwer periodisch wiederholen lassen.

Umstrittene Punkte

Die Ziele der Schadensminderung lassen sich durch den koordinierten Einsatz sehr unterschiedliche Massnahmen erreichen. Dazu gehören beispielsweise Strategien zur Bekämpfung der Stigmatisierung, Massnahmen zur Ermutigung von Substanzkonsumierenden, sich an öffentlichen Debatten zu beteiligen, oder der Zugang zu fachlicher Unterstützung durch sichere Konsumräume. Hiermit stellt sich die Frage ob strukturelle Präventionsmassnahmen (zum Beispiel höhere Steuern oder Schutz vor Passivrauchen) der Schadensminderung zuzuordnen sind [6]. Es besteht insofern eine klare Verwechslungsgefahr bei den Begriffen Prävention und Schadensminderung. Die Prävention betrifft die Entscheidung, mit dem Konsum zu beginnen, während die Schadensminderung die Folgen eines Konsums anvisiert, für den sich die Person bereits entschieden hatte.
Ein weiterer kontroverser Aspekt, angesichts potentieller kommerzieller Interessen, ist die Bedeutung der Aufklärung über Risiken oder gar die Förderung risikoarmen Konsums. Eine Initiative, die Werbung für Tabak oder Glücksspiel einschränkt oder verbietet, könnte als relevant für die Schadensminderung angesehen werden, wenn eben diese Werbung das Suchtverhalten verstärkt. Andererseits können Aufforderungen zur Mässigung, wie sie in Marketingmaterialien kommuniziert werden, in Wirklichkeit auf eine Marktausweitung abzielen, und letztendlich zu einer Erhöhung der Risiken und Schäden führen (typischerweise Förderung eines «verantwortungsvollen» Konsums durch die Industrie).

Besser definieren, um besser zu evaluieren

Die Erweiterung der Schadensminderung-Definitionen auf nicht Substanzgebundenes Suchtverhalten wie Geldspiel bietet nun die Gelegenheit, das Konzept zu konsolidieren. Obwohl es verfrüht ist, eine genaue und einvernehmliche Definition festzulegen, ist es dennoch möglich, eine Skizze davon vorzuschlagen.
Zunächst einmal muss die Schadensminderung im Rahmen von Verhaltenssüchten, wie auch im Falle anderer Störungen, die Person, ihre Entscheidungsfreiheit und ihr soziales Umfeld in den Brennpunkt ihrer Bemühungen stellen. Dies erfordert vom Staat, dass er die Person sowie seine Angehörigen sowohl unter dem Gesichtspunkt des Schutzes als auch der Förderung der Grundrechte zu berücksichtigen hat.
Zweitens sollte eine Definition der Schadensminderung, die auch Störungen wie die Glücksspielsucht mit einbezieht, berücksichtigen, dass das eigentliche Ziel nicht die Verringerung der Prävalenz des problematischen Geldspiels ist, sondern die Verringerung der Problemlast und die Verbesserung der Lebensqualität. Beispielsweise kann eine Person mit einem Geldspielproblem in einer Rechtsordnung A, in der es kaum regulierte Angebote und keine Anforderungen an den Spielerschutz gibt, erheblichen sozialen und beruflichen Schaden erleiden. In einer Rechtsprechung B, die über einen gesetzlichen Rahmen verfügt, der Schutzmassnahmen vorschreibt, wird eine Person mit der gleichen Diagnose ihr Spielverhalten jedoch so steuern können, dass der Schaden sich für die Person selber und ihrem Umfeld in Grenzen zu halten vermag. In beiden Rechtsordnungen wird die Person die diagnostische Schwelle der Geldsspielstörung erreichen, aber die Belastung durch die von ihr verursachten Probleme kann extrem variieren. Daraus folgt, dass das Ziel der Schadensminderung nicht nur von der betroffenen Person, sondern auch von deren Angehörigen und deren sozialem Umfeld bestimmt werden sollte.
Drittens sollte die Definition eines Schadensminderungsansatzes für regulierte Suchtmittel auch Betriebsbedingungen umfassen (zum Beispiel für Geldspiele: Homologierung von Schutzmassnahmen gegen bestimmte besonders problematische Spielangebote, Massnahmen zur Erkennung problematischen Spiels, Prozeduren zum Selbstausschluss), die den Anbietern von Suchtmitteln vom Staat aufzuerlegen sind. Schliesslich muss die Schadensminderung als öffentliche Politik Gegenstand rigoroser Evaluierungsbemühungen sein, die auf einem System von Struktur-, Prozess- und Ergebnisindikatoren basieren. Dies betrifft insbesondere qualitative und quantitative Ansätze zur Umschreibung und Messung von Schäden.
Schliesslich ist die Schadensminderung zwar ein Prozess, dessen «primum movens»die Bürgerbeteiligung ist, doch ist das Engagement des Staates aufgrund der inhärenten Zielkonflikte zwischen öffentlicher Gesundheit, Wirtschaft und öffentlicher Ordnung von entscheidender Bedeutung. Letztendlich sollten die spielenden Personen, ihre Angehörigen und die Gemeinschaft als Ganzes in der Lage sein, im Nachhinein unabhängig und transparent zu überprüfen, ob die Ziele der Schadensminderung tatsächlich erreicht wurden.

Grenzen der Definition von Schadensminderung, wie sie in der Nationalen Strategie Sucht 2017–2024 vorgeschlagen wird [7]

Laut der Nationalen Strategie Sucht zielen Massnahmen zur Schadensminderung darauf, « den Gesundheitszustand der Betroffenen zu stabilisieren (z. B. durch die Motivierung zu weniger riskanten oder weniger schädlichen Verhaltensweisen), ihre soziale Integration zu erhalten bzw. die Reintegration erleichtern oder ihnen Überlebenshilfe bieten. Ziel der Schadensminderung ist der Erhalt der Lebensqualität der Betroffenen, so dass sie trotz aktuellem Risiko- und Suchtverhalten ein qualitativ gutes und möglichst selbstbestimmtes und beschwerdefreies Leben führen können, und später der Weg zu Therapie und Entzug geebnet werden kann. Für die Gesellschaft wird eine Verringerung von Risiken und Schäden angestrebt, die sich durch Suchtverhalten ergeben können, z. B. durch eine Reduktion von Unfällen im Zusammen- hang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen oder die Eindämmung übertragbarer Krankheiten.»
Hauptkritikpunkte dieser Definition sind, dass sie nicht präzisiert, was Schadensminderung nicht ist (Regulierung, Behandlung und Prävention), und dass sie einige Besonderheiten von Schadensminderung nicht hervorzuheben vermag, wie etwa den Bottom-up-Charakter des Ansatzes (die Leistungsangebot richtet sich nach den Bedürfnissen der Betroffenen) oder den zeitlichen Rahmen der Intervention (wie es hier die Idee nahelegt, dass «Therapie» oder «Entzug» einen Schritt nach der Entwöhnung darstellen könnten) [8].
Die Autoren bedanken sich herzlich bei Frau Ingrid Vogel für ihren Beitrag zum Korrekturlesen.
Olivier.Simon[at]chuv.ch
1 Astrid Tomczak-Plewka, Thilo Beck. Die Bedeutung der Schadensminderung in der Suchtmedezin. Bull Med Suisses. 2021;102(42):1359-1361.
2 Bowden-Jones, H., Dickson, C., Dunand, C., & Simon, O. (Eds.). (2019). Harm Reduction for Gambling: A Public Health Approach (1st ed.). Routledge. https://doi.org/10.4324/9780429490750
3 EMCDDA (2010), Harm reduction: evidence, impacts and challenges, Monograph series 8,
4 Lenton, S., & Single, E. (1998). The definition of harm reduction. Drug and Alcohol Review, 17(2), 213-219.
5 Wodak, A., & Sanders, B. (1995). Harm reduction means what I choose it to mean. Drug and Alcohol Review, 14(3), 269–271.
6 Chaloupka, F. J., Straif, K., & Leon, M. E. (2011). Effectiveness of tax and price policies in tobacco control. Tobacco Control, 20(3), 235-238.
7 Rapport du Conseil Fédéral (2015), Stratégie nationale Addictions 2017–2024.
8 Kommentare des Groupement Romand d’Études des Addictions (GREA) zum BAG-Paper zur Schadensminderung und Risikominimierung im Suchtbereich (2022).