Was Frauen wollen

Interview
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21369
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(05):20-24

Publiziert am 01.02.2023

Karriere Zu wenige Ärztinnen sind in Führungspositionen. Woran das liegt? Die Chirurgin Daniela Zeller-Simmerl spricht im Interview über Diskriminierung und schlechte Rahmenbedingungen – und erklärt, wie wichtig Netzwerke für Frauen sind.
Daniela Zeller-Simmerl, Sie sind Vorstandsmitglied der «medical women switzerland» (mws). Der Verband vertritt Medizinstudentinnen und Ärztinnen aller Fachrichtungen in der Schweiz. Für welche Kernthemen setzen Sie sich ein?
Im vergangenen Jahr sind die mws 100 Jahre alt geworden. Damals mussten die Frauen im männerdominierten Umfeld der Medizin dafür kämpfen, dass sie Medizin studieren, als Ärztinnen arbeiten und Geld damit verdienen konnten. Heute ist es wichtig, dass wir uns untereinander vernetzen, um auch in Führungspositionen vorzurücken. Heute sind diese Hauptthemen auf der Agenda: Wir wollen Ärztinnen im Medizinbetrieb fördern, den Frauen Mut machen, sich selbst als Unternehmerin und Arbeitgeberin in eigener Praxis zu sehen. Dafür braucht es viel Know-how und bei diesem Wissenstransfer wollen wir unterstützen. Und wir haben als mws schon immer in der Standespolitik mitgemischt.
Dr. med. Daniela Zeller-Simmerl ist Chirurgin mit eigener Praxis in Zürich und Vorstandsmitglied der medical women switzerland.
© Nicolas Zonvi
Welche Faktoren führen dazu, dass Laufbahnen von Ärztinnen und Ärzten noch immer deutlich unterschiedlich verlaufen? Und in welchen Bereichen wird eine Diskriminierung deutlich?
Wir haben hier zwei Arten von Diskriminierung, die strukturelle und die subtile, die häufig zu Unterschieden im Laufbahnverlauf führen. In chirurgischen Fächern beispielsweise dürfen Schwangere oftmals nicht mehr in den OP, sie dürfen keinen Nachtdienst mehr versehen und auch nicht röntgen. So bekommt die Karriere schon bevor das Kind überhaupt geboren ist, einen Knick. Ist das Kind da, bleibt häufig die Ärztin zu Hause. Falls sie keinen Partner hat, der selbst gerne Teilzeit arbeiten möchte, übernimmt sie dann nach der Kinderpause meist ein Teilzeitpensum. Damit wird man jedoch gerade für die operativen Aufgaben nicht eingesetzt und man kommt als Chirurgin nicht weiter. Teilzeitpensen sind oft ein Hinderungsgrund für die Besetzung einer leitenden Position. Häufig sind Stellenausschreibungen für höhere Positionen so formuliert, dass sich Frauen gar nicht erst bewerben, da flexible Arbeitszeiten, Team- und Kommunikationsfähigkeit und der Nachweis der Evaluation guter Lehre thematisiert sind [1].

Frauen im Fokus

In Ausgabe 1-2 der Schweizerischen Ärztezeitung vom 11.1. haben wir bereits über Frauen in der Chirurgie berichtet. Hier weiten wir den Blick und zeigen, welchen Beitrag die medical women switzerland leisten, um sich für die Anliegen der Ärztinnen einzusetzen.
Wie äussert sich die subtile Diskriminierung?
Unter subtile Diskriminierung fallen Bemerkungen, die junge Ärztinnen verunsichern können: «Traust du dir das überhaupt zu?», «Wie stellst du dir das vor, wenn du Kinder bekommst?» Ich selbst habe keine Kinder und dachte immer, dass ich deshalb nicht diskriminiert werde, aber rückblickend muss ich schon sagen, dass es Situationen gab, in denen ein Mann in meinem Umfeld bevorzugt behandelt wurde.
Frauen sollen ihre Leistung und ihren Wert sichtbar machen, sagt Daniela Zeller-Simmerl.
© Nicolas Zonvi
Werden junge Ärztinnen von ihren Vorgesetzten anders behandelt als junge Ärzte?
Direkt nach dem Studium sind die Positionen von Ärztinnen und Ärzten etwa vergleichbar. Die Medizin ist jedoch von Männern gemacht. Männer wählen für ihr Team gerne Männer aus. Mit einer Schwangerschaft beginnt dann die Ungleichbehandlung. Ich möchte ein Beispiel aus der Chirurgie anführen: Eine Kollegin ging zum Chef und sagte ihm, dass sie schwanger sei. Die Antwort war: «Jetzt bin ich aber enttäuscht von Ihnen, ich dachte aus Ihnen wird eine gute Chirurgin.» Sie ist heute Chirurgin in einer leitenden Position, weil sie unbeirrt weitergemacht hat. Aber derartige Bemerkungen können schon zu einem Stolperstein für die Karriere werden.
Wie kommt es zu der ungleichen Verteilung des Frauenanteils in den verschiedenen Fächern [2]?
Als junge Frau denkt man zu Beginn seiner Karriere darüber nach, welche Fachrichtung mit einem Familienleben vereinbar ist: Wo kann ich Teilzeit arbeiten? Was ist günstig, damit ich später in die ambulante Praxis gehen kann? Das sind schon aktive Entscheidungen, die Frauen eventuell anders fällen würden, wenn die Bedingungen günstiger wären. Chirurgische Fächer sind noch immer männerdominiert. Da muss man von Anfang an «seine Frau stehen». Das hält viele Frauen davon ab, sich für ein chirurgisches Fach zu interessieren.
Welche Rahmenbedingungen müssten geschaffen werden, damit Ärztinnen bessere Karrierechancen erhalten?
Wir brauchen flexible Arbeitszeiten, verlässliche Dienstpläne, Kinderkrippen mit geeigneten Öffnungszeiten, Gleichstellungsstellen und Unterstützungsprogramme, die speziell für Ärztinnen gemacht sind. Jobsharing muss auch auf höheren Etagen möglich werden. Man muss beginnen, Abläufe neu zu denken. Wichtig ist auch, dass Frauen in Führungspositionen sind, die zum einen als Vorbilder dienen. Zum anderen sollte ihnen die Frauenförderung wichtig sein. Wir müssen auch darauf achten, dass bei Bewerbungsverfahren Frauen stärker berücksichtigt werden. Und die Rahmenbedingungen für die Forschung müssen verbessert werden, denn Forschung ist wichtig für die Karriere.
Es gibt eine ganze Zahl von Berufsaussteigerinnen [3]. Wie kann man im Angesicht eines Ärztemangels Ärztinnen beispielsweise nach einer Familienpause zu einem Wiedereinstieg bewegen?
Mit einer Verbesserung der Rahmenbedingungen könnte man einiges erreichen. In den deutschsprachigen Ländern sind wir so sozialisiert, dass wir unsere Kinder nicht nach drei Monaten schon in der Kinderkrippe abgeben «dürfen». In Dänemark gibt es Kinderkrippen, die 24 Stunden geöffnet sind und die Leute machen Gebrauch davon. Frauen sollten sich schon vor der Kinderpause ein funktionierendes Netzwerk aufbauen, das sie auch pflegen, während sie nicht im Beruf stehen. In Absprache mit dem Arbeitgeber könnte man weiterhin an Fortbildungsveranstaltungen und Besprechungen teilnehmen.
Die Chirurgin hält persönliche und berufliche Netzwerke für besonders wichtig bei der Karriereplanung.
© Nicolas Zonvi
Im Jahr 2021 lag der Frauenanteil in der berufstätigen Assistenzärzteschaft bei 59,9%. Auf der Ebene der Chefärztinnen und Chefärzte finden sich nur noch 15,3% Frauen [4]. Wie kommt es zu einer solchen Diskrepanz?
Diese Frage der «Leaky Pipeline» ist schwierig zu beantworten, der Deutsche Ärztinnenbund beobachtet diese Entwicklung auch und führt verschiedene mögliche Ursachen an [1]. Die meisten davon habe ich bereits genannt. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Chefärztinnenstellen gar nicht mehr so erstrebenswert sind, man steht unter Druck, schwarze Zahlen zu schreiben, hat ständig die Verwaltung als Gegner, man wird gezwungen, die Indikationsliste auszuweiten und so weiter. All das widerstrebt den Frauen.
Was kann für die Frauen getan werden, die eine Leitungsposition anstreben?
Ich halte persönliche und berufliche Netzwerke für ausgesprochen wichtig. Durch ein frühzeitiges Engagement in Forschung und Gesundheits- und Standespolitik entstehen wichtige Verbindungen. Durch die Mitarbeit in Verbänden wie den mws oder dem vsao findet man Zugang zu weiteren Netzwerken. Ein Netzwerk nützt aber nur, wenn man es nicht als Hängematte betrachtet, sondern sich aktiv beteiligt. Netzwerke sind auch hilfreich bei der Bildung von «Seilschaften», in denen es leichter wird aufzusteigen. Gerade wenn eine Frau in gehobener Position sitzt, kann man davon profitieren, nach oben «gezogen» zu werden.
Welche Tipps würden Sie einer jungen Ärztin für ihre Karriere geben, die gerade ihr Arztdiplom erhalten hat?
Sie sollte ihre berufliche Laufbahn früh definieren, eine Strategie entwickeln und sich gezielt weiterbilden. Eine Schwangerschaft muss nicht zwingend einer beruflichen Karriere im Weg stehen, wenn das Umfeld stimmt. Frauen müssen lernen, ihre Leistung und ihren Wert sichtbar zu machen und sich selbst darzustellen. Sie müssen einfordern, was ihnen zusteht, auch Lohnverhandlung kann man lernen. Frauen dürfen Bedingungen stellen und Unterstützung einfordern.
Gibt es in der Schweiz Programme, die Medizinerinnen in ihrer Karriereplanung fördern? Wie sehen diese aus?
Es gibt verschiedene Programme mit unterschiedlicher Ausrichtung, um Karrieren in Medizin und Wissenschaft zu begleiten. «Coach my Career» der FMH beispielsweise ist ein Förderprogramm für Ärztinnen und Ärzte, bei dem sie Hilfestellung bei der beruflichen Weichenstellung bekommen [5]. «Filling the gap» des Universitätsspitals Zürich fördert Laufbahnen durch Mentoring, begleitete Laufbahnplanung und Unterstützung der Forschungstätigkeit durch Freistellen von anderen Aufgaben [6]. Die Entwicklung von «Aiming higher» der Universität St. Gallen haben auch die mws unterstützt. In diesem Programm können Assistenzärztinnen karriererelevante Aspekte des Spitalwesens kennenlernen und Kompetenzen für die Entwicklung der Karriere erlernen [7]. 2023 werden die mws eine Netzwerkreihe «Wie werde ich Chefärztin?» veranstalten. Es werden verschiedene Chefärztinnen eingeladen, die in Gesprächen von ihrer eigenen Karriere berichten. Termine werden auf der Webseite medicalwomen.ch veröffentlicht.
Die mws sind international über «The Medical Women’s International Association» vernetzt. Gibt es Länder, die der Schweiz in Sachen geschlechtsspezifische Ungleichheiten unter ärztlichen Fachpersonen voraus sind? Was kann man sich hierzulande von diesen Ländern abschauen?
Die skandinavischen Länder sind soziokulturell anders aufgestellt, dort arbeiten Ärztinnen ganz selbstverständlich mit einem hohen Pensum, auch wenn sie Kinder haben. Die ausserfamiliäre Kinderbetreuung ist dort wesentlich besser organisiert.
Gibt es auch Gesundheitsbereiche, in denen die mws besondere Schwerpunkte setzen möchten?
Wir wollen die Gendermedizin fördern. Als mws haben wir leider keine Ressourcen, um Studien durchzuführen. Aber wir können verstärkt in Erinnerung rufen, dass es bei der Behandlung verschiedenster Erkrankungen noch immer zu einer Benachteiligung von Frauen kommt. Zu diesem Zweck haben wir das Thema Gendermedizin in unsere Netzwerkveranstaltungen aufgenommen. Für diese Veranstaltungen, die physisch und online verfolgt werden können, haben wir Medizinerinnen gewinnen können, die auf dem Gebiet der Gendermedizin forschen. Beispielsweise haben wir von Frau Prof. Dr. med. Gebhard aus Zürich gehört, dass seit den 80er Jahren die kardiovaskuläre Sterblichkeit bei Männern stetig sinkt, bei Frauen hingegen eine entgegengesetzte Tendenz zu beobachten ist. Wir wollen damit das Bewusstsein schärfen, dass Frauen diagnostisch und therapeutisch häufig von Männern zu unterscheidende Voraussetzungen mitbringen, die in der Medizin berücksichtigt werden müssen.

100 Jahre Netzwerk für Frauen

Seit 100 Jahren vernetzen sich Ärztinnen in der Schweiz bereits. Ende 2022 haben die «medical women switzerland» (mws) ihr grosses Jubiläum gefeiert. Und ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Anliegen damals durchaus ähnlich waren wie heute. Als eine Ärztinnengruppe 1922 die Vereinigung der Schweizer Ärztinnen gründete, wollte sie damit die gegenseitige Unterstützung, den Austausch und die Fortbildung fördern, sozialpolitische Anliegen verfolgen und für die Emanzipation der Frau eintreten. Seit dem Jahr 2005 trägt die Gruppe zwar einen neuen Namen. Doch noch immer geht es darum, dass Frauen in der Medizin ein Netzwerk erhalten.
Vor der Gründung der Vereinigung waren die Medizinerinnen in der Schweiz auf sich gestellt. 1874 erhielt Marie Heim-Vögtlin als erste Schweizerin an der Universität Zürich ihren Doktortitel in Medizin. Sie praktizierte vor allem als Frauenärztin und war sozial engagiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründete sie mit der Chirurgin Anna Heer die Pflegerinnenschule Zürich, ein Spital von Frauen für Frauen. Ärztinnen haben also durchaus schon früh kooperiert. Dennoch waren sie anfangs vor allem Einzelkämpferinnen in der männlich geprägten Welt der Medizin.
Seit Marie Heim-Vögtlins Zeiten hat sich einiges verändert. Die Zahl der Ärztinnen wächst. Heute machen Frauen rund die Hälfte der Medizinstudierenden aus. Und auch die Vereinigung ist im Laufe der Zeit gewachsen. Heute haben die mws rund 1000 Mitglieder.
1 Gabriele Kaczmarczyk. Medical Women On Top [Internet]. Deutscher Ärztinnenbund, Herausgeber. 2022. Verfügbar unter: https://www.aerztinnenbund.de/DAEB-Dokumentation_Medical_Women_On_Top.2557.0.2.html
2 FMH-Ärztestatistik [Internet]. FMH. [zitiert 18. Oktober 2022]. Verfügbar unter: https://www.fmh.ch/themen/aerztestatistik/fmh-aerztestatistik.cfm
3 Kraft, Esther, Loretan, Lisa, van der Heiden , Nico. Jeder zehnte Arzt steigt aus. Schweiz Ärzteztg [Internet]. 23. August 2016 [zitiert 18. Oktober 2022];97(34). Verfügbar unter: https://doi.emh.ch/saez.2016.04953
4 Hostettler S, Kraft E. Jeder vierte Arzt ist 60 Jahre alt oder lter. Schweiz Ärzteztg [Internet]. 29. März 2022 [zitiert 18. Oktober 2022]; Verfügbar unter: https://doi.emh.ch/saez.2022.20609
5 Coach my Career Mentoring Programm [Internet]. FMH. [zitiert 15. November 2022]. Verfügbar unter: https://www.fmh.ch/dienstleistungen/stationaere-tarife/coach-my-career.cfm
6 Filling the Gap [Internet]. Universität Zürich; [zitiert 15. November 2022]. Verfügbar unter: http://www.med.uzh.ch/de/Nachwuchsfoerderung/fillingthegap.html
7 Aiming Higher - Karriereentwicklung für Assistenzärztinnen [Internet]. Executive School of Management, Technology and Law (ES-HSG). [zitiert 15. November 2022]. Verfügbar unter: https://es.unisg.ch/de/weiterbildung/aiming-higher-karriereentwicklung-fuer-assistenzaerztinnen/