Einmal quer durch das Osmanische Reich

Porträt
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21372
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):80-81

Publiziert am 22.02.2023

Weit gereistJosephine Fallscheer-Zürcher trat in die Fusstapfen ihres Vorbilds Marie-Heim Vögtlin und wurde Ärztin. Statt in der Schweiz zu praktizieren, schlug sie jedoch einen Weg ein, der sie bis ins Osmanische Reich und nach Palästina führte.
Ein weiblicher Arzt war damals im Reich der Hohen Pforte noch etwas Unerhörtes. […] Jedenfalls lockte es mich, jenseits von überlieferten Lebensgeleisen und den üblichen Kulissen, fern von bürgerlicher Behaglichkeit und gesellschaftlichen Pflichten, unter Verzicht auf Karriere, Konjunktur und Kompromisse der schrankenlosen Hingabe an den geliebten Beruf zu leben.» [1] So charakterisierte sich die Ärztin Josephine Fallscheer, geborene Zürcher, rückblickend.

Eine der ersten Ärztinnen

1866 in Zürich geboren, verlor Josephine Zürcher früh ihren Vater, worauf sie in einem Waisenhaus erzogen wurde. Ihrem grossen Vorbild, der ersten Schweizer Ärztin Marie Heim-Vögtlin, folgend, studierte sie Medizin in ihrer Heimatstadt. Nach dem Staatsexamen 1891 praktizierte sie, nun selber eine der ersten Schweizer Ärztinnen, unter anderem in Bern. Sie schloss 1895 ihre Promotion bei Auguste Forel ab und war nun im «Weissen Hirsch» tätig, einem naturheilkundlichen Sanatorium in Dresden. Dort lernte sie einen Theologen des Deutschen Hilfsbunds für Armenien kennen. Er suchte dringend einen Chirurgen, der sich in das gefährliche Gebiet wagte.

Missionsärztin in Urfa und Aleppo

Nach langen Verhandlungen konnte Josephine Zürcher im Auftrag des Hilfswerks «Deutsche Orientmission» als Missionsärztin ins Osmanische Reich reisen, um den brutal verfolgten christlichen Armeniern ärztlich beizustehen. Unter der Auflage, in der Öffentlichkeit Männerkleidung zu tragen, baute sie 1897 in Urfa ein Spital auf, worin gut 2000 Personen jeden Monat behandelt wurden. Ihr standen ein armenischer Arzt und ein Apotheker bei. Mit zum überschaubaren Team gehörten auch ein Diener, ein Wachsoldat und Henry Fallscheer, der als Kaufmann die Administration übernommen hatte, aber eigentlich als Lehrer in Jerusalem arbeitete.

Frauen in der Medizin

Die Porträtserie stellt in lockerer Folge historische weibliche Persönlichkeiten aus dem medizinischen Umfeld der Schweiz vor. Jede dieser Frauen beschritt eigenwillig ihren Weg. Und nicht selten weisen ihre Geschichten erstaunliche Bezüge zur Gegenwart auf.
Nach einem halben Jahr traf ein Schreiben des Sultans ein, worin Josephine Zürcher verboten wurde, weiterhin als Frau den Arztberuf auszuüben. Zwar gelang es ihr, gegen eine hohe Geldsumme eine Praxiserlaubnis im südlich gelegenen Aleppo zu erhalten, aber gemäss den osmanischen Gesetzen durfte Josephine weder Verträge abschliessen noch Verhandlungen führen. Erst die Hochzeit mit Henry Fallscheer 1899, der seine Anstellung in Jerusalem gekündigt hatte und mit ihr nach Aleppo gereist war, ermöglichte Josephine, nun mit dem Nachnamen Fallscheer-Zürcher, die Eröffnung einer eigenen Arztpraxis mit angegliederter Apotheke. Sie leitete die einzige europäisch geführte Praxis und fand grossen Zulauf. Für einmal war es nicht die Frau, die sich ihrem Mann anpasste, um dessen berufliche Entwicklung zu unterstützen.
Plötzlich hiess es, Josephine dürfe keine Apotheke führen. Henry sprang helfend ein und erreichte, dass eine Bewilligung auf seinen Namen ausgestellt wurde. Doch weitere Gehässigkeiten folgten. Damit Josephine weiterhin als Ärztin tätig sein konnte, musste die Familie – inzwischen war Tochter Gerda geboren – 1904 weiterziehen.

Über Marasch und Antiochia nach Haifa und Nablus

Im Deutschen Missionsspital des südanatolischen Marasch arbeitete Josephine Fallscheer-Zürcher nun für ein Jahr als stellvertretende Chefärztin, während Henry als Lehrer im entfernten Beirut unterrichtete. Als Josephines Vertretung endete, gab auch Henry seine Stelle auf. Die Odyssee ging weiter.
Die nächste Station, die Handelsstadt Antiochia, brachte die Familie wieder zusammen und beiden Eltern eine eigenständige, wenngleich unsichere Berufstätigkeit: Josephine eröffnete eine Praxis, Henry ein Handelsgeschäft. Doch noch im selben Jahr 1905 erhielt Henry ein Angebot, in Haifa als Buchhalter der Deutschen Palästina-Bank zu arbeiten. Da er in Palästina aufgewachsen war, sprach ihn diese Stellung nicht nur finanziell an, sondern bedeutete für ihn auch eine Rückkehr in die Heimat. Jetzt war es an Josephine, mit ihrem Mann mitzuziehen.
Haifa als moderne Hafenstadt bot der kleinen Familie für mehrere Jahre eine Bleibe, wobei Henry ab 1909 in Nazareth arbeitete und Josephine ihre Praxistätigkeit aus gesundheitlichen Gründen reduzieren musste. Henrys Beförderung zum Bankleiter drei Jahre später machte allerdings einen erneuten Umzug erforderlich, dieses Mal nach Nablus, wo Josephine die ärztliche Tätigkeit verboten war.

Ausbruch des Ersten Weltkriegs

Nach nur zwei Jahren, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wurde Henrys Bank aufgelöst. Die Familie zog nach Jerusalem, wo Henry eine Lehrerstelle gefunden hatte und Josephine ihre Praxiserlaubnis für Palästina und Syrien, die syrischen Provinzen des osmanischen Reichs, geltend machen konnte. In Jerusalem übernahm Josephine die Leitung der Poliklinik im Deutschen Hospital. Die Türkei versorgte als Bündnispartnerin von Deutschland und Österreich-Ungarn die stationierten Heere, verwundete und gefangene Soldaten. Hunger, Elend und Flüchtlingsströme prägten Jerusalem. Währenddessen fanden erneut brutalste Massaker an der armenischen Bevölkerung statt.
1917 wurde Henry, der trotz seiner Heimat in Palästina Deutscher geblieben war, zum Kriegseinsatz nach Deutschland berufen. Noch bevor Jerusalem zum Kriegsschauplatz wurde, reiste die Familie nach Europa.

In Europa und zurück nach Palästina

Weil der Lehrermangel derart gross war, wurde Henry schon nach wenigen Wochen vom Dienst befreit und konnte in Ulm als Lehrer arbeiten. Josephine war wieder als Ärztin tätig, zuerst in einer psychiatrischen Klinik bei Esslingen, ab 1918 beim Stuttgarter Gesundheitsamt.
Die Ärztin Josephine Fallscheer-Zürcher, ca. 1897.
© Handschriftenabteilung ZB Zürich, Ms Z II 129
1921 erlitt sie einen ersten Blutsturz. Mit ihrer Tochter reiste sie nach langen Jahren zur Erholung zurück in die Schweiz, während Henry seiner Mutter in Jerusalem beistand. Danach kam die Familie erneut in Palästina zusammen. Josephines ärztliche Tätigkeit beschränkte sich nun krankheitsbedingt auf Noteinsätze und Schreibarbeit, während Henry wieder als Lehrer tätig war.

Letzte Station: Deutschland

1930 begleitete Josephine schweren Herzens ihren Mann zurück nach Europa. Hätte Henry jetzt keine feste Anstellung in Deutschland angenommen, wäre die Familie ohne jede Altersversorgung dagestanden. Ihre letzten beiden Lebensjahre verbrachte sie in Stuttgart, wo sie sich um Tuberkulosekranke in einem Aussenbezirk der Stadt kümmerte. Im Sommer 1932 starb sie nach einer Fieberattacke.
Die frühe Schweizer Ärztin hatte sich an Orte begeben, an denen ihr beruflicher Weg noch steiniger als in der Heimat war. Dennoch gelang es Josephine Fallscheer-Zürcher im Orient immer wieder, in leitender Position tätig zu sein. Die «Double Career» mit ihrem Mann ermöglichte diesen Weg, behinderte ihn aber auch zeitweise.
1 Frutiger U: Ärztin im Orient – auch wenn’s dem Sultan nicht gefällt. Josephina Th. Zürcher (1866–1932). Basler Veröffentlichungen zur Geschichte der Medizin und der Biologie NF 1, Schwabe Verlag, Basel/Stuttgart 1987.