Mitentscheidung

Der selbstbestimmte Patient

Hintergrund
Ausgabe
2023/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21418
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(06):12-14

Publiziert am 08.02.2023

PartizipationNicht alle Patientinnen und Patienten wollen gleich stark an Entscheidungen zu ihrer Gesundheit beteiligt werden. Eine Studie des Universitätsspitals Basel zeigt, dass jede fünfte Person lieber passiv bleibt. Das hat Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis.
Wer mag es schon, dass über seinen Kopf hinweg wichtige Entscheidungen getroffen werden? Allerdings: Nicht alle Menschen haben dasselbe Bedürfnis nach Mitsprache – auch wenn es um die eigene Gesundheit geht. Das zeigt eine kürzlich erschienene Studie des Universitätsspitals Basel (USB) [1].
Hauptautoren sind Professorin Sabina Hunziker und Oberarzt Christoph Becker von der Medizinischen Kommunikation, einer Spezialabteilung der Inneren Medizin und Psychosomatik am USB.
Für die Studie werteten sie Daten von rund 800 Patientinnen und Patienten aus, die zwischen 2017 und 2019 stationär am USB, Kantonsspital Aarau oder Kantonsspital Baselland behandelt wurden.
Im Zentrum stand die Frage, wie stark Patientinnen und Patienten an medizinischen Entscheidungen beteiligt sein wollen – die sogenannte Partizipationspräferenz oder Entscheidungskontrollpräferenz (decisional control preference/DCP). Das Resultat: Mehr als zwei Drittel wollten gemeinsam mit dem medizinischen Team über die nächsten Schritte der Behandlung entscheiden («kollaborativ»). Rund 15 Prozent der Befragten wollten ihre Entscheidungen vorwiegend alleine treffen («aktiv»). Und rund 20 Prozent zeigten Zurückhaltung, sich an medizinischen Entscheidungen zu beteiligen und zogen es vor, dass ihre Ärztinnen und Ärzte über die medizinische Behandlung entscheiden («passiv»).

Plausible Zahlen

Für Susanne Gedamke, Geschäftsführerin der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO), ist diese Verteilung von aktiv-kollaborativ-passiv plausibel: «Die Zahlen entsprechen ziemlich genau dem, was wir auch in unseren Beratungen erleben.»
Dr. Alfred Bänziger, Hausarzt in Zürich, erlebt es hingegen äussert selten, dass eine Person nicht mitentscheiden will über eine Behandlung: «Das hängt wohl damit zusammen, dass die meisten Patientinnen und Patienten schon viele Jahre in unsere Praxis kommen. Insofern konnte sich ein Vertrauensverhältnis aufbauen.»

Tiefes Bildungsniveau, hohes Alter

Wie aber kommt es, dass gewisse Menschen Entscheidungen über ihre Gesundheit am liebsten delegieren möchten? Bisherige Studien [2] fanden unter anderem, dass «passive» Personen häufiger ein tiefes Bildungsniveau oder ein höheres Alter haben. In der Basler Studie liess sich dieser Zusammenhang nicht statistisch signifikant nachweisen – auch kein Mangel an medizinischem Wissen. Studienautorin Sabina Hunziker sieht eine Vielfalt von Faktoren, die den Entscheidungsstil einer Person prägen. So spielten etwa die familiäre Prägung und bisherige Erfahrungen mit dem Medizinsystem eine wichtige Rolle. Andere Forschung [3] zeigt zudem, dass unter anderem die Art und Schwere einer Erkrankung die Partizipationspräferenz mit beeinflusst. Gemäss Hunziker ist der Wunsch nach Mitbestimmung grösser, wenn es um einschneidende Entscheidungen wie etwa einen Therapieabbruch, chronische Krankheiten und Aspekte der Lebensqualität geht. Ausserdem sind die Präferenzen nicht zwingend stabil, sondern können sich während des Lebens oder im Verlaufe einer Erkrankung verändern.

Passivität respektieren?

Wie sollen Ärztinnen und Ärzte mit diesen unterschiedlichen Präferenzen betreffend Mitbestimmung umgehen? Sollen sie den Wunsch einer Person respektieren, nicht selber zu entscheiden und ihr die Entscheidung abnehmen? Oder umgekehrt versuchen, die Person zur Partizipation zu motivieren? «Aufgrund des heutigen Forschungsstandes lässt sich nicht klar bestimmen, welche Variante den besseren medizinischen Outcome ergibt», sagt Hunziker. Aus rechtlicher Sicht ist klar: Eine Entscheidung muss von den Patientinnen und Patienten im Sinne des «informed consent» zumindest abgesegnet werden. Dabei gilt es, in möglichst verständlicher Sprache die unterschiedlichen Optionen einer Behandlung und mögliche Konsequenzen aufzuzeigen.
In der Praxis ist es gemäss Hunziker eher selten, dass ein Patient sagt: «Sie sind die Ärztin, entscheiden Sie!». Eher sage eine Person: «Ich weiss nicht, was ich tun soll. Was würden Sie mir raten?» Insofern sei es völlig in Ordnung, passiv sein zu wollen: «Es ist ein Zeichen von Überforderung, das es ernst zu nehmen gilt», so Hunziker. Als Arzt oder Ärztin mache man es sich zu einfach, in einer solchen Situation zu antworten: «Ich kann nicht für Sie entscheiden». Denn damit bleibe das Gegenüber mit seiner Überforderung alleine.
Male Patient And Doctor Have Consultation In Hospital Room
Nicht alle Patientinnen und Patienten möchten gleich stark an medizinischen Entscheidungen beteiligt sein.
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Kommunikation im Zentrum

Hunziker empfiehlt stattdessen, die Werte und Präferenzen der Patientinnen und Patienten im Gespräch schrittweise herauszuschälen und mit einer Entscheidung in Übereinstimmung zu bringen. Hilfreich sein können dabei Modelle wie das Shared Decision Making (vgl. Interview) sowie Entscheidungshilfen [4.], wie sie für immer mehr medizinische Situationen entwickelt werden.
«Vor allem aber ist in solchen Situationen Kommunikationskompetenz gefragt», so Hunziker. Entsprechend hat die Universität Basel ein Kommunikationscurriculum für das Medizinstudium entwickelt und umgesetzt – bisher einzigartig in der Schweiz.
Auch SPO-Geschäftsführerin Susanne Gedamke betont, dass Fachpersonen die unterschiedlichen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten bezüglich Mitbestimmung erkennen und darauf eingehen sollten: «Der Umgang mit dem Thema Mitbestimmung ist nicht standardisierbar. Die Kommunikation darüber verlangt von den Fachpersonen ein hohes Mass an Einfühlungsvermögen.»

Fehlendes Vertrauen

Eine Herausforderung können neben «passiven» Patientinnen und Patienten auch die rund 15 Prozent sein, die alles selber entscheiden wollen. Gemäss der Basler Studie sind dies tendenziell jüngere Personen mit hoher Bildung. Sie sind gleichzeitig skeptischer und unzufriedener mit dem medizinischen Team und der Behandlung. Auch hier gilt für Hunziker: «Patientenzentriert auf die Unzufriedenheit eingehen. Denn wenn fehlendes Vertrauen angesprochen wird, kann dies viel verändern.»
Nicht selten informieren sich «aktive» Patientinnen und Patienten im Internet. Für Hausarzt Alfred Bänziger ist das durchaus willkommen, sofern sie dies auch offenlegen: «Dann habe ich einen Ansatzpunkt, um darüber zu sprechen und erfahre oft auch, welche Ängste sie haben.» Schwieriger sei, wenn das Gegenüber die Google-Suche nicht thematisiere, aber mit Nachdruck im Internet erwähnte Diagnostikverfahren verlange. In der Regel gelinge es aber auch dann, ein sachliches Gespräch zu führen und gemeinsam eine für beide stimmige Entscheidung zu finden, so Bänziger.

Patientensicht wird wichtiger

Partizipationspräferenzen vermehrt zu beachten ordnet sich in die allgemeine Entwicklung ein, die Sicht der Patientinnen und Patienten stärker zu berücksichtigen – etwa in der Form des Patient Reported Outcome. Bisweilen wird heute versucht, solche Ansätze systematisch zu verankern. So hat das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in einem Modellprojekt das Shared Decision Making in praktisch all seinen Kliniken implementiert – inklusive 80 Online-Entscheidungshilfen.
Trotzdem gilt es zu bedenken: Nicht alle Menschen wollen und können sich im selben Mass in die Entscheidungsfindung einbringen. Für Sabina Hunziker ist deshalb klar: «Wenn wir als Ärztinnen und Ärzte die Partizipationspräferenz unseres Gegenübers kennen, können wir individueller auf sie eingehen. Damit erhöhen wir auch die Chance, die Arzt-Patient-Beziehung zu verbessern und die Zufriedenheit mit der Behandlung zu erhöhen.»
Lesen Sie auch den Artikel zum Thema im Swiss Medical Forum ab der Seite 40.
Sollen Ärztinnen und Ärzte gleich zu Beginn eines Gesprächs fragen, wie viel jemand mitentscheiden will?
Das würde ich nicht empfehlen. Vielen Menschen ist nicht unbedingt bewusst, welcher Entscheidungstyp sie sind. Insofern kann diese Frage eine zusätzliche Überforderung sein. Besser ist, im Laufe des Gesprächs zu erarbeiten, wie jemand zu dieser Frage steht und wie es der Person in der Entscheidungssituation ergeht.
Das Shared Decision Making wird bisweilen als Goldstandard der medizinischen Entscheidungsfindung bezeichnet. Zu Recht?
Studien zeigen, dass das Shared Decision Making dann angebracht ist, wenn mindestens zwei evidenzbasierte, gleichwertige Entscheidungsmöglichkeiten vorliegen. Ebenfalls geeignet ist das Modell, wenn bei den vorliegenden Behandlungsoptionen die Evidenz ihrer Wirksamkeit tief, das Risiko von Komplikationen aber potenziell hoch ist – beziehungsweise mögliche Nebenwirkungen angesichts des Nutzens individuell unterschiedlich gewichtet werden.
Wann ist die Methode nicht geeignet?
Wenn die Evidenz nur für eine bestimmte Behandlung spricht, ist es angebracht, eine klare Empfehlung dafür abzugeben und zu klären, ob die Person damit einverstanden ist. Insofern: Shared Decision Making ist ein hilfreiches Modell – aber nicht unbedingt für jede Situation.
Was, wenn sich die Präferenzen von Patient und Ärztin deutlich widersprechen?
Die Vorstellungen können tatsächlich sehr unterschiedlich sein – wir sprechen dabei von Arztkonzept und Patientenkonzept. Der Patient hat selbstverständlich das Recht, sich gegen eine empfohlene Behandlung auszusprechen. Wichtig ist, dass er gut informiert ist und die Konsequenzen seiner Entscheidung verstanden hat, um die Verantwortung übernehmen zu können.
Und im umgekehrten Fall: Falls die Patientin eine Behandlung verlangt, welche der Arzt unnötig findet?
Dann gilt es herauszufinden, welches Patientenkonzept dahintersteht: Welchen Vorteil verspricht sich die Patientin von der Massnahme? Häufig hilft das, eine Lösung zu finden, die für beide Seiten stimmt. Aber ja, man kann auch mit Kommunikation nicht alle Probleme lösen. Falls das nicht gelingt, sollte der Arzt Nein sagen zu einer Option, die er medizinisch nicht gutheissen kann. Auch auf die Gefahr hin, dass die Patientin vielleicht zum letzten Mal in seiner Praxis war.
Prof. Dr. med. Sabina Hunziker
Professorin für Psychosomatik und Medizinische Kommunikation, Abteilung der Inneren Medizin und Psychosomatik am Universitätsspital Basel
USB, Gazzeta 12-17, Sabina Hunziker, Leitende Ärztin, Markgräflerhof 2,
1 Christoph Becker, Sabina Hunziker et al: Patients’ Preference for Participation in Medical Decision-Making: Secondary Analysis of the BEDSIDE-OUTSIDE Trial, Journal of general internal medicine, 9. September 2022: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36085211/
2 Vogel, Barbara A., Helmes, Almut W., Bengel, Jürgen: Arzt-Patienten-Kommunikation in der Tumorbehandlung: Erwartungen und Erfahrungen aus Patientensicht, Zeitschrift für Medizinische Psychologie, vol. 15, no.4, 2006: https://content.iospress.com/articles/zeitschrift-fur-medizinische-psychologie/zmp15-4-02
3 Donald J. Kiesler, Stephen M. Auerbach: Optimal matches of patient preferences for information, decision-making and interpersonal behavior: Evidence, models and interventions, Patient Education and Counseling, Juni 2006
4 Deutsches Netzwerk Gesundheitskompetenz e.V.: Medizinische Entscheidungshilfen (gesundheitskompetenz.online)¸ https://gesundheitskompetenz.online/medizinische-entscheidungshilfen/
Weitere Literatur:
Lisa-Lena Stein: Partizipationsbedürfnis und wahrgenommene Partizipation – Zusammenhang mit psychischem Befinden und Lebensqualität, Dissertation, Würzburg, 2013: https://opus.bibliothek.uni-wuerzburg.de/opus4-wuerzburg/frontdoor/deliver/index/docId/6886/file/Doktorarbeit_Abgabeversion_Nov13.pdf