Im globalisierten Wartezimmer

Hintergrund
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21453
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(05):12-15

Publiziert am 01.02.2023

Geflüchtete Im Jahr 2022 sind besonders viele Menschen in die Schweiz geflüchtet. Sie suchen Schutz – und medizinische Versorgung. Doch ihre Behandlung kann herausfordernd sein. Was Ärztinnen und Ärzte beachten sollten.
Mehr als 90 000 Geflüchtete sind im vergangenen Jahr in die Schweiz gekommen – der grösste Teil davon stammt mit fast 75 000 Schutzgesuchen aus der Ukraine [1]. Das sind deutlich mehr Geflüchtete als in den vergangenen Jahren. So kamen 2015, als es bereits eine grosse Zahl einreisender Geflüchteter gab, nur 40 000 Menschen aus Syrien in die Schweiz [2]. Die Asylzentren sind dementsprechend «relativ stark ausgelastet», wie das Staatssekretariat für Migration gegenüber der NZZ kommentierte [3]. Die steigenden Zahlen sind auch eine Herausforderung fürs Gesundheitswesen, das aktuell wegen fehlender Pflegekräfte, zu weniger Betten und Überlastung des Notfalls in der Krise steckt [4].
«Momentan werden wir noch nicht von einer Welle von Ukrainern überschwemmt, so wie das am Anfang befürchtet wurde», erklärt Matthis Schick, Leitender Arzt an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am Unispital Zürich. «Wir machen die Erfahrung, dass unter den ukrainischen Geflüchteten das Stigma gegenüber der Psychiatrie hoch ist und die Betroffenen dazu neigen, sich selbst zu organisieren», erklärt der Experte für Refugee Mental Health. Die traumatisierten Flüchtlinge, die tatsächlich vorstellig werden, seien vor allem solche, die schon in ihrem Heimatland psychiatrische Behandlungen in Anspruch genommen haben.
Etliche Menschen verlassen die Ukraine. Die medizinische Behandlung Geflüchteter kann für Ärztinnen und Ärzte herausfordernd sein.
© Tutye2001 / Dreamstime; SlavkoSereda / Dreamstime
Gesundheitsinstitutionen versuchen deshalb, sich mit medizinischen Fachkräften aus der ukrainischen Community zu vernetzen und so den Zugang zu Patientinnen und Patienten zu finden, die an kriegsbedingten psychischen Problemen leiden. Einige Spitäler haben deshalb einzelne ukrainische Ärzte oder Ärztinnen angestellt. Andernorts werden ukrainisch sprechende Fachkräfte auf Einzelfallbasis konsiliarisch beigezogen.
Wie gut die Versorgung der Geflüchteten funktioniert, lässt sich laut Matthis Schick vom Unispital Zürich derzeit jedoch nicht beurteilen. Denn es fehlen die statistischen Daten und es dauere lange, bis auffalle, dass ein Flüchtling psychische Probleme hat und zum Beispiel wegen einer Traumafolgestörung eine Zuweisung zur Fachstelle benötigt. Das gilt insbesondere für Flüchtlinge mit einem kulturellen Hintergrund, der weiter von der Schweiz entfernt ist als der ukrainische – etwa für Geflüchtete aus Afghanistan, die derzeit ebenfalls in ansteigenden Zahlen in die Schweiz kommen.

Leitlinien nicht eingehalten

«Der auf Bundesebene geforderte chancengleiche Zugang [5] zu Gesundheitsdienstleistungen ist heute aber eindeutig nicht gewährleistet», stellt Matthis Schick fest. Das liege auch am System, das aufgrund des Spardrucks keine optimale Behandlung dieser Personen zulasse.
So gibt es etwa bis heute keine einheitliche Regelung für die Kostenübernahme von Dolmetscherarbeit bei medizinischen Behandlungen. Die Fachgesellschaften geben zwar klar vor [6], dass eine professionelle Übersetzerin beziehungsweise ein Übersetzer bei fremdsprachigen Personen einbezogen werden sollte. Auch an den Schweizer Universitäten wird das den Medizinstudierenden so gelehrt. Doch die Theorie scheitert an der Realität, weil jeder Kanton selbst darüber entscheidet, wer die Dolmetschenden bezahlen soll.
Psychiater Matthis Schick erklärt: «Eine Stunde Übersetzungsarbeit kostet mit Spesen etwa 120 Franken. Wenn man im falschen Kanton arbeitet, muss dieses Geld von der Privatpraxis oder dem Spital übernommen werden.» Bei einem durchschnittlichen Brutto-Verdienst von 190 Franken pro Stunde psychiatrischer Behandlung bleibt für die Ärztin oder den Arzt nicht mehr viel übrig. Entsprechend setzen Behandelnde in manchen Kantonen fast nie auf die in der Lehre vorgesehenen Dolmetscher und weichen auf Laiendolmetscher wie Verwandte oder Nachbarn der Patientinnen und Patienten aus.
«Das ist aber problematisch, weil Patienten heikle Themen wie etwa ihre Eheprobleme, Traumata oder Suizidgedanken nicht vor den übersetzenden Kindern mit ihrer Ärztin besprechen», erklärt Schick. Darum brauche es eine Lösung wie in der Romandie. Dort haben die Kantone einheitliche Regeln für die Kostengutsprache vereinbart. Das System funktioniere besser als in der Deutschschweiz.

Sensibilisierung fehlt oft

Wenn Ärztin und Patient ein unterschiedliches Verständnis von Krankheiten und der nötigen Behandlung haben, kann das die Betreuung zusätzlich erschweren. Das Verständnis von Krankheiten (model of illness) ist nicht universell, sondern variiert. Es ist abhängig von Faktoren wie Bildung, Tradition oder Religiosität. Gerade bei Krankheiten, die sensorisch nicht direkt erfahrbar sind, seien Geflüchtete kritischer in Bezug auf Gesundheitsinstitutionen und Schulmedizin. Das Staatssekretariat für Migration bemerkte gegenüber der NZZ etwa, dass sich «weniger als 20% der Asylbewerber aus Afghanistan impfen lassen würden» [7]. Dabei ist es laut den internationalen Richtlinien [8] gerade für Flüchtlinge, die auf engem Raum miteinander leben, wichtig, möglichst schnell fehlende Impfungen gegen Infektionskrankheiten zu erhalten.
Compliance kann deshalb nicht einfach vorausgesetzt werden. Diese fehlt oft, wenn die Menschen die Behandlung nicht verstehen. Matthis Schick selbst erlebt in seinem Alltag oft, dass fremdsprachige Migranten vor einer Operation zwar auf dem Papier aufgeklärt wurden, sie das Prozedere aber nicht verstanden haben. Solche Situationen führen zu einer weiteren psychischen Belastung der Betroffenen, die wegen ihrer Herkunftsgeschichte oft sowieso unter massiven Problemen leiden. Was hier gefragt ist: Verständnis und Einfühlungsvermögen von den Ärztinnen und Ärzten. Und vor allem mehr Zeit für die geflüchteten Personen, damit die jeweiligen Vorstellungen miteinander abgeglichen werden können – und ein Vorgehen erarbeitet werden kann, dem beide Seiten zustimmen.
Auch hier ist der Einbezug von Dolmetschern zentral, damit Kunstfehler verhindert und die gesetzlichen Vorgaben zur Sorgfalts- und Aufklärungspflicht eingehalten werden. Aus der Vergangenheit ist etwa ein Fall aus der Schweiz bekannt, bei dem aufgrund von sprachlichen Missverständnissen bei einer Patientin irrtümlich ein Abort durchgeführt wurde – oder der Fall eines Migranten, der nicht richtig über die Nebenwirkungen eines Medikaments aufgeklärt wurde und in der Folge wegen seiner iatrogenen Leiden einen Suizidversuch unternahm.
Ganz konkret können Ärztinnen und Ärzte dies auch mit dem Einbezug von Informationsmaterial in der Muttersprache von migrierten Patienten vermeiden. Die Plattform «Migesplus» [9] des Schweizerischen Roten Kreuzes stellt kostenlos Gesundheitsinformationen in 50 verschiedenen Sprachen zur Verfügung. Es gibt beispielsweise für ukrainische Geflüchtete Informationen über Rauchentwöhnung, COVID-Impfung oder den Aufbau des Gesundheitswesens in der Schweiz. Doch auch medizinische Fachpersonen finden Konzepte und Publikationen für den optimalen Umgang mit Geflüchteten.

Das Individuum zählt

«Weiter zu beachten ist, dass es im transkulturellen Kontext nicht hilft, wenn man Patienten in Herkunftsgruppen einteilt und die Diagnosestellung danach richtet», erklärt Psychiater Matthis Schick. Er plädiert dafür, Geflüchteten immer mit einer individuellen Betrachtung entgegenzutreten, anstatt sich auf Generalisierungen und statistische Häufigkeiten bezüglich Krankheitsverteilungen in verschiedenen Ländern zu verlassen. «Wenn ich sagen würde, ich muss alle Schweizer nach dem Schema X anders behandeln als zum Beispiel die Eritreer, dann bringt mich das bei der Befundung nicht weiter.»
Der Mediziner fügt an: «Die Herkunft ist ein so vages Merkmal, dass sie für die individuelle Behandlung im klinischen Alltag eigentlich nichts bringt. Denn die Variation innerhalb einer Kultur ist viel grösser als zwischen ihr und anderen Kulturen.» Man müsse aufpassen, dass man nicht Kulturstereotypen zum Opfer falle. Anders sei es bei Public-Health-Aspekten und Screening Tests auf bestimmte Krankheiten, die man bei bestimmten Risikogruppen verwendet.
Generell gilt nämlich, dass es zwar Unterschiede gibt zwischen dem Gesundheitszustand von Einheimischen und Migranten, diese laut Schick aber eher gering sind und sich vor allem mit sozialen Determinanten wie Bildungs- und Einkommensunterschieden erklären lassen. So seien manche Migranten gar in besserem Allgemeinzustand als ein durchschnittlicher Schweizer. Bei der Gesundheit geht es also um die Akkumulation von Risikofaktoren, die bei Migrantinnen und Migranten etwas gehäuft und bei Geflüchteten stark gehäuft auftreten. Hierzu gehören auch psychische Traumata und die oft prekären Lebensumstände. Daher sollten Ärztinnen und Ärzte die meist komplexe Lebensrealität von Geflüchteten kennen und in ihre Überlegungen zur Behandlung einfliessen lassen.
«Schlussendlich sollten die Patienten einen chancengleichen Zugang zu medizinischer Versorgung haben wie die hier lebende Bevölkerung», ist Matthis Schick vom Unispital Zürich überzeugt. Denn auf lange Sicht würden unbehandelte Pathologien sich meist verschlimmern und zu Mehrkosten führen – ganz unabhängig von der ethischen Debatte um das Stichwort Health Care Equity.

Spezialkurse

Am 9. Februar 2023 bietet «Lunge Zürich» am Kongress in Davos zwei Kurse zur Behandlung von Migranten an. Von 10.30 bis 15.30 Uhr leitet Prof. Paolo M. Sutter vom Universitätsspital Zürich unter dem Titel «Ernährung 2023 – Update» eine Weiterbildung, in der es unter anderem um die Frage geht, weshalb Personen aus dem globalen Süden und Asien ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko haben.
Ebenfalls am 9. Februar 2023 von 12.30 bis14 Uhr leitet Psychiater Matthis Schick eine Weiterbildung zum klinischen Umgang mit Geflüchteten. Dabei werden sprachliche und transkulturelle Verständigungsschwierigkeiten besprochen. Behandlungshinweise für den Alltag in der Hausarztpraxis sind ebenfalls Thema. Die Weiterbildung hat zum Ziel, die Teilnehmenden hinsichtlich häufiger Probleme zu sensibilisieren, eine Orientierungshilfe zur Beurteilung zu bieten und Empfehlungen für das praktische Vorgehen im Umgang mit dieser heterogenen Patientengruppe abzugeben.
Informationen unter www.lunge-zuerich.ch/events-kurse/anlasse-fur-fachpersonen/arztekongress-davos
1 twitter.com/SEMIGRATION/status/1610215512578969603?s=20&t=ayMZnfcNtJIpz_BgJ1pvWg
2 www.beobachter.ch/migration/tausende-neue-asylgesuche-was-hat-die-schweiz-seit-der-migrationskrise-gelernt-548277
3 www.nzz.ch/international/migrationskrise-in-europa-die-wichtigsten-fakten-und-news-ld.1535949?reduced=true
4 www.blick.ch/schweiz/schweizer-gesundheitssystem-in-der-krise-patienten-landen-in-psychiatrie-weil-notfall-ueberlastet-ist-id18180142.html
5 www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitsstrategien/gesundheitliche-chancengleichheit.html
6 saez.ch/article/doi/saez.2022.20801
7 www.nzz.ch/international/migrationskrise-in-europa-die-wichtigsten-fakten-und-news-ld.1535949?reduced=true
8 www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Stichwortliste/F/Flucht_empfohlene_Impfungen.pdf?__blob=publicationFile
9 www.migesplus.ch/