Schöner, stärker – kränker?

Hintergrund
Ausgabe
2023/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21456
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(07):12-14

Publiziert am 15.02.2023

AnabolikaSie machen muskulös, aber auch krank und süchtig: anabol-androgene Steroide. Trotzdem werden die illegalen Medikamente von Schweizer Männern genutzt. Nicht selten nehmen sie die Nebenwirkungen bewusst in Kauf – bis sie schliesslich bei der Hausärztin oder dem Hausarzt landen.
Rund 600 Päckchen mit anabol-androgenen Steroiden hat der Schweizer Zoll im Jahr 2021 konfisziert. Die Empfänger der Lieferungen: Männer, die mit Hilfe dieser Anabolika Muskeln aufbauen und ihr Aussehen optimieren wollen. Die abgefangenen Mengen sind aber nur die Spitze des Eisbergs: Die Anzahl Männer in der Schweiz, die mindestens einmal in ihrem Leben Anabolika konsumieren, dürfte bei 200 ​000 bis 300 ​000 liegen. Diese Zahlen leiten sich aus der Prävalenz in vergleichbaren Ländern sowie Erhebungen in Fitnessstudios ab [1].
«Die Akquise ist dabei unproblematisch. Wer etwas will, bekommt es auch», sagt Samuel Iff, Facharzt für Public Health sowie Arbeitsmedizin und Mitgründer des Vereins NIPED (Neuro, Image and Performance Enhancing Drugs), der unter anderem die Schadensminderung bei Anabolikagebrauch zum Ziel hat. «Die meisten Männer bekommen die Substanzen von Kollegen im Fitnessstudio, ansonsten gibt es unzählige Onlineshops im Ausland.» In der Schweiz ist der Vertrieb zwar illegal, doch der Erwerb und Besitz für den Eigengebrauch sind straffrei.

Nebenwirkungen sind beträchtlich

Obwohl es keine legalen Konsequenzen gibt, ist der Gebrauch von Anabolika im Freizeitsport keineswegs harmlos, sondern − besonders bei langanhaltender Anwendung − mit medizinischen Risiken verbunden. Anabol-androgene Steroide sind synthetische Derivate von Testosteron, die unter anderem an Androgen-Rezeptoren binden. «Das bringt die ganze Regulation der Sexualhormone durcheinander. Die User nehmen dabei zudem x-fach höhere Dosen ein, als im therapeutischen Bereich etwa zur Behandlung von Hypogonadismus üblich sind», sagt Prof. Philip Bruggmann, Co-Chefarzt Innere Medizin des Zentrums für Suchtmedizin Arud in Zürich.
Einige Anwender nehmen die Substanzen dauerhaft ein, oft unterziehen sie sich aber auch zeitlich begrenzten «Kuren» oder «Cycles», wie die Methode im Szene-Slang genannt wird – beispielsweise auf die Badesaison hin. Dabei werden teilweise mehrere Präparate kombiniert, um den Effekt zu optimieren. Die Einnahme von hohen Anabolika-Dosen fördert zwar wunschgemäss das Kraft- und Muskelwachstum, hat aber Nebenwirkungen wie Linksherzhypertrophie, Atherosklerose, erhöhter Blutdruck, Hodenschrumpfung, Akne oder Brustdrüsenwachstum. Auch psychische Folgen wie Reizbarkeit, Aggressionen und Depressionen sind möglich, etwa ein Drittel der User schlittert sogar in eine Abhängigkeit.
Philip Bruggmann weist auf weitere Gefahren hin: «Die Präparate stammen aus der Veterinärmedizin oder aus illegalen, nicht zertifizierten Labors.» Wie eine aktuelle Metastudie von Arud belegt, enthalten etwa 75% der im Umlauf befindlichen Präparate einen gefälschten oder falsch dosierten Wirkstoff. Und wenn die Anwender sich die Medikamente injizieren und dabei die Spritzen teilen, kann dies zu Hepatitis-Infektionen führen.

Broscience ersetzt Arztbesuch

Trotz der hohen Prävalenz und der Nebenwirkungen tauchen Anabolika-Anwender im medizinischen Alltag kaum auf dem Radar auf. «Männer, die Anabolika einnehmen, sind nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen», sagt Samuel Iff, der selbst lange Zeit in Fitnessstudios trainierte und dadurch einen guten Einblick in die Szene besitzt. Entgegen der geläufigen Vorstellung hätten diese nicht riesige Muskelpakete wie Arnold Schwarzenegger oder Jean-Claude van Damme. «Es sind meist Männer zwischen zwanzig und vierzig Jahren, die einfach ein bisschen besser aussehen wollen.»
Die Hauptmotivation sei nicht eine Leistungssteigerung wie im Spitzensport, sondern es gehe um das Image − männlich zu wirken und sexuell attraktiv zu sein wie die Vorbilder in den sozialen Medien. Als typisches Beispiel nennt er einen jungen Familienvater, der wegen seiner beruflichen und familiären Verpflichtungen nicht genug Zeit fürs Training hat. «Bei so jemandem kommt keiner darauf, dass er Anabolika nimmt.»
Wenn die Zeit fürs Training fehlt, greifen viele Männer zu Anabolika.
© Dmitry-Fisher / Dreamstime
Über die gesundheitlichen Risiken machen sich – zumindest zunächst − die wenigsten Gedanken. «Laut Befragungen sind die subjektiven Eindrücke überwiegend positiv», sagt Iff. Spätfolgen wie Unfruchtbarkeit oder ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko kümmere in dieser Lebensphase kaum jemanden. Und relativ harmlose Nebenwirkungen wie Akne oder Brustwachstum würden toleriert oder mit der Einnahme von auf dem Schwarzmarkt erworbenen Substanzen bekämpft. Denn bei medizinischen Problemen wenden sich die Anwender selten direkt an ärztliche Fachpersonen, sondern verlassen sich zunächst auf die sogenannte «Broscience» − also Ratschläge von selbsternannten Experten in der Szene. «Eine solche Peer-to-Peer-Beratung kann lückenhaft sein, da medizinisches Fachwissen fehlt», sagt Philip Bruggmann.

Zuhören statt verurteilen

Umso wichtiger sei es deshalb, dass sich Ärztinnen und Ärzte gegenüber Anabolika-Nutzern richtig verhalten, wenn diese wegen Nebenwirkungen in die Praxis kommen oder bei einer Routineuntersuchung ihren Anabolika-Konsum thematisieren möchten. Laut Umfragen suchen nämlich etwa 40% der Anabolika-Konsumenten doch medizinischen Rat bei ihrer Hausärztin oder ihrem Hausarzt.
«Wichtig ist, dass man dann nicht gleich den mahnenden Finger hochhebt und sagt, du musst sofort damit aufhören», so Bruggmann. «Dann war die Person sicher das letzte Mal in der Sprechstunde.» Besser sei es, erst einmal zuzuhören und zu verstehen, wo überhaupt das Problem liegt. «Wenn die Person das Ziel hat aufzuhören, dann schaut man, dass man das erreichen kann. Wenn sie einfach mehr medizinische Kontrolle haben will, um allfällige asymptomatische Nebenwirkungen zu überwachen, dann fängt man eben so an.» Später, wenn ein Vertrauensverhältnis aufgebaut sei, lasse sich eventuell auch mehr erreichen.
Eine solche unterstützende und nicht stigmatisierende Haltung findet auch Samuel Iff unerlässlich. Medizinerinnen und Mediziner hätten eine ethische Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen, selbst wenn sie am Anabolika-Gebrauch festhalten wollen. «Wenn ein jahrelanger Raucher eine chronische Bronchitis hat, bekommt er eine Behandlung dafür. Das gleiche Prinzip sollte auch für jemanden gelten, der Anabolika nimmt und deswegen schmerzende Brustwarzen oder zu hohen Blutdruck hat.»

Anlaufstellen für Fachpersonen

Psychiatriezentrum Münsingen AG: Dr. med. Ingo Butzke (ingo.butzke[at]pzmag.ch), www.pzmag.ch
Arud – Zentrum für Suchtmedizin: Prof. Dr. med. Philip Bruggmann (P.Bruggmann[at]arud.ch), www.arud.ch
Dr. Pump: Dr. med. Samuel Iff, www.drpump.ch

Der Ausstieg ist schwierig

Besonders herausfordernd ist die Begleitung von Patienten, die in eine Anabolika-Abhängigkeit geraten. Sie entwickeln die typischen Anzeichen einer Sucht: zunehmende Toleranz gegenüber den Substanzen, Steigerung der Dosis, starkes Verlangen und die Vernachlässigung von anderen Pflichten.
«Wenn diese Leute von einem Tag auf den anderen mit den Anabolika aufhören oder auch versuchen, die Dosis deutlich zu reduzieren, können starke Absetzphänomene auftreten», sagt Ingo Butzke, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt am Psychiatriezentrum Münsingen AG. Es kann zu ausgeprägten depressiven Verstimmungen, Verlust der Libido, starkem Verlangen nach Anabolika, Konzentrationsschwierigkeiten und Müdigkeit kommen. Auch Gedanken an Selbstmord sind möglich.
Genau wie beim schädlichen Konsum anderer Substanzen sei es deshalb unsinnig zu verlangen, dass Anabolika-Anwender von heute auf morgen damit aufhören, erklärt Butzke. «Wichtig ist zunächst einmal, die Konsumgründe zu verstehen, ein Vertrauensverhältnis zu etablieren und ihnen einen Verzicht oder zumindest einem schadensarmen Konsum näherzubringen.»
Gemeinsam mit Samuel Iff hat Butzke deshalb eine niederschwellige Ansprechstelle für Anabolika-Anwender aufgegleist: Auf der Internetplattform Dr. Pump hat jeder die Möglichkeit, vertraulich Fragen an medizinische Fachpersonen zu stellen. Diese sind mit dem speziellen Slang der Szene und den dort kursierenden Substanzen vertraut. Ab dem kommenden Sommer will auch Arud eine interdisziplinäre Spezialsprechstunde für Betroffene anbieten. Beide Angebote helfen auch Ärztinnen und Ärzten, die Unterstützung bei der Betreuung von Anabolika-Anwendern wünschen.

Legale Hürden für die Behandlung

Ein Problem dabei stellt allerdings die rechtliche Situation in der Schweiz dar. Zwar gibt es für die Nebenwirkungen von Anabolika und auch für das Abfangen von Entzugserscheinungen etablierte Medikamente − deren Einsatz ist jedoch meist verboten aufgrund des in der Schweiz geltenden Anti-Doping-Gesetzes [2].
Das Gleiche gilt für Bluttests, die nötig sind, um einen kontrollierten und schadensmindernden Konsum zu überwachen. Ärztinnen und Ärzte müssen für den Einsatz dieser Medikamente und Tests eigentlich eine Ausnahmegenehmigung beantragen.
Samuel Iff glaubt, dass diese unsichere legale Situation mitverantwortlich dafür ist, dass viele zurückhaltend bei der Behandlung von Anabolika-Anwendern sind oder ihnen einfach pauschal zu einem Verzicht raten. «Durch die Verschärfung des Gesetzes wurde die Trennung zwischen Leistungs- und Freizeitsport aufgehoben, um den Schwarzmarkt in den Griff zu bekommen», so Iff. Doch: «Für Anabolika scheint das nicht zu funktionieren.» Seiner Ansicht nach braucht es politische Vorstösse, um das Gesetz an die Realität und die Bedürfnisse von Freizeitsportlern anzupassen.
Auch Philip Bruggmann ist nicht glücklich über die jetzige Gesetzeslage: «Sicher ist, dass diese Leute Unterstützung brauchen, und dass dabei nicht inkohärente Gesetze im Weg stehen dürfen.» Arud möchte in Zusammenarbeit mit der Stadt Zürich nun gerne einen Drug-Check für Anabolika einführen wie es ihn schon für psychoaktive Substanzen wie LSD oder Amphetamine gibt. Dann könnten Anabolika-Anwender zumindest den Inhalt der auf dem Schwarzmarkt erworbenen Mittel überprüfen lassen.

Anmerkung der Redaktion

Kurz vor Redaktionsschluss erschien in verschiedenen Schweizer Medien die Meldung, gegen Samuel Iff laufe eine Strafuntersuchung. Es liege der Verdacht vor, er habe verbotene Substanzen zur Leistungssteigerung verschrieben. Die Recherche für diesen Artikel fand statt, bevor die Meldung kursierte. Samuel Iff betont die Gültigkeit seiner Zitate in diesem Artikel und äussert sich zum laufenden Verfahren nicht.
1 www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1047279714000398?via%3Dihub
2 econtent.hogrefe.com/doi/10.1024/2674-0052/a000029
Weiterführende Literatur:
econtent.hogrefe.com/doi/10.1024/1661-8157/a003846
econtent.hogrefe.com/doi/10.1024/1661-8157/a003872
econtent.hogrefe.com/doi/10.1024/1661-8157/a003867
journals.sagepub.com/doi/10.1177/1557988320966536
bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-022-13734-4