Martigny – bloss ein Einzelfall?

Forum
Ausgabe
2023/1415
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21492
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(1415):18

Publiziert am 05.04.2023

Notaufnahme Personalmangel, steigende Fallzahlen, Kostendruck: Die Spitäler sind mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Die Notaufnahmen in ihrer Funktion als Eingangspforte leiden als Erste. Ein Beispiel ist Martigny, wo die Notfallabteilung seit Januar geschlossen ist. Ein notwendiges Übel, meint Vincent Ribordy.
Die Spitäler in der Schweiz stehen vor enormen Herausforderungen, bedingt durch ein sich rasch verändernden Pflegebedarf, einen Mangel an Gesundheitspersonal und den anhaltenden wirtschaftlichen Druck auf das Gesundheitssystem. Aus Sicht der Schweizer Notfalldienste ist die Situation aufgrund der zahlreichen Herausforderungen – immer mehr Einsätze, qualifizierter Personalbestand am kritischen Limit, unzureichende Ressourcen und saturierte Spitallast – unhaltbar geworden, und das System wurde durch die COVID-19-bedingte Krise im Gesundheitswesen hart getroffen, wie aus zahlreichen Publikationen im Detail zu entnehmen ist [1–3]. Die Schweizerische Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin (SGNOR) und die Association Latine de Médecine d’Urgence (ALAMU) schlugen Alarm und wandten sich zu Jahresbeginn mit einem Schreiben an die zuständige Leitung und Direktion der Krankenhaus- und Gesundheitsdienste [4].
Die Schweizerische Ärztezeitung veröffentlichte Ende Januar ein mit dem Chefarzt geführtes Interview zur nächtlichen Schliessung der Notaufnahme in Martigny [5]. Ist dies der erste Fall einer langen Reihe? Wir hoffen nicht, aber der Mangel ist so gross, dass die Versorgungssicherheit zur konkreten Gefahr für das gesamte Gesundheitswesen zu werden droht, während sich die Gesundheitspolitik weiterhin allein auf die Kosten konzentriert [6, 7]. Die nächtliche Schliessung der Notaufnahme in Martigny reflektiert ganz einfach ein in Schieflage geratenes Gesundheitssystem. Die Notaufnahme ist ohne entsprechend qualifiziertes Personal und leistungsgerechte Ressourcen nicht funktionsfähig. Allgemeiner ausgedrückt heisst dies, dass unser Gesundheitssystem ohne entsprechende Investitionen Schiffbruch erleiden wird.
Parallel dazu gilt es jedoch noch weitere Überlegungen anzustellen. Die Organisation eines Spitalnetzwerks muss ein transversal ausgerichtetes Funktionieren und eine komplementäre Realisierung der Aufgabenstellungen gewährleisten. Die Zusammenlegung von Ressourcen und hochtechnischer Ausstattung ermöglicht eine effiziente Notfallmedizin für eine breite Bevölkerung. Als gesundheitstechnisches Drehkreuz zwischen Bevölkerung und Spital sorgt die Notaufnahme für die erforderliche Aufnahme, Triage, Stabilisierung und Orientierung der schwersten und komplexesten Notfälle. Sie ist mit sehr unterschiedlichen täglichen, wöchentlichen oder saisonalen Aufgaben konfrontiert. Die regionalen Spitäler versorgen die nicht lebensbedrohlichen, weniger komplexen Notfälle und entlasten damit die zentrale Einrichtung. Für die Bevölkerung ermöglicht die Aufrechterhaltung notdienstlicher Strukturen in der Nähe (regionale Spitäler und Pikettdienste) den Zugang zu ungeplanten notdienstlichen Leistungen, zumal die Dienst- und Hausärzte Mühe haben, den Bedarf der Bevölkerung in Zeiten knapper Mittel zu genügen.
So gesehen ist es möglicherweise nicht erforderlich, die regionalen Notaufnahmen rund um die Uhr in Bereitschaft zu halten. Die vitalen notdienstlichen Leistungen dürften sowieso nicht in erster Linie darauf ausgerichtet sein und die laufenden Notdienste sind nachts deutlich weniger gefordert oder können bis zum Morgen warten, vor allem wenn noch eine regelnde Zentrale und medizinische Versorgung zwischengeschaltet sind. Durchgehend geöffnete Notaufnahmen in Spitälern ohne die entsprechend erforderliche technische Ausstattung zur Behandlung von schweren Fällen senden falsche Sicherheitssignale.
Wenn dies der Bevölkerung nicht klar und deutlich kommuniziert wird, kann es zu Unverständnis und Abwehrreaktionen kommen. Und bei der Neustrukturierung der Spitäler wird das Gespenst der Demontage der öffentlichen Spitäler beschworen. Möglicherweise könnte es einigen Politikern auch an der erforderlichen Weitsicht oder dem notwendigen Quäntchen Mut mangeln und die Thematik bleibt in ihrer Dringlichkeit erhalten, während die Bevölkerung unzufrieden ist.
Die Kolleginnen und Kollegen des Spitals Wallis gaben sicherlich ihr Bestes, bevor sie zu diesem Bruch kamen. Sie haben der Qualität der Pflege den Vorrang gegeben. Da trifft niemanden eine Schuld. Die Entscheidungsträger sind aufgefordert, die Notfalldienste des Spitalzentrums des französischsprachigen Wallis weiterhin zu unterstützen und ihnen nicht nur die dafür erforderlichen Mittel verfügbar zu machen; es gilt auch zu erklären, wie der Gesundheitsschutz und der Zugang zur Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung des Kantons gewährleistet wird.
Prof. Dr. med. Vincent Ribordy, Chefarzt Notaufnahme HFR Freiburg, Co-Präsident SGNOR
1 Carron PN, Sarasin F. Redéfinir les urgences par ce qu’elles ne sont pas? Rev Med Suisse. 2022;18(791):1479-1480. DOI:10.53738/REVMED.2022.18.791.1479
2 Gabor DK, Wolfe R, D’Onofrio G et al. Emergency department crowding: the canary in the health care system. 2021. https://catalyst.nejm.org/doi/full/10.1056/CAT.21.0217
3 Schmutz T, Guechi Y, Ribordy V. Maintenir le service d’urgences à flot contre vents et marées. Rev Med Suisse 2023;19:152 DOI:10.53738/REVMED.2023.19.811.152
5 Rippstein J. Am Rande einer Katastrophe. Schweizerische Ärztezeitung. 2023;104(04):6-7 DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2023.21468
6 Wille N, Gilli Y. Ärztemangel: Nicht nur die Energie kommt aus dem Ausland. Schweizerische Ärztezeitung. 2023;104(01–02):30-32 DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2023.21366
7 Wille N, Gilli Y. Unterversorgung mit Ansage. Schweizerische Ärztezeitung. 2023;104(07):22-23 DOI: https://doi.org/10.4414/saez.2023.21561