Zwangsmassnahmen und offene Türen in der Schweiz

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21511
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(10):72-74

Publiziert am 08.03.2023

Ultima Ratio Zwangsmassnahmen befinden sich im Spannungsfeld zwischen ärztlicher Fürsorgepflicht und dem Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Hierbei gelten Zwangsmassnahmen in der psychiatrischen Behandlung als Mittel der letzten Wahl, welche nur in Notfallsituationen zur Anwendung kommen. Ein Überblick zum Einsatz von Zwangsmassnahmen in der Schweiz und wie die «offene Türpolitik» zur Reduktion von Zwangsmassnahmen beitragen kann.
Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 BV)». Insbesondere in dieses durch die Bundesverfassung der Schweiz geschützte Grundrecht wird durch Zwangsmassnahmen schwerwiegend eingegriffen. In der Anwendung von Zwangsmassnahmen müssen daher nicht nur psychiatrische, sondern auch rechtliche und ethische Aspekte be-rücksichtigt werden [1, 2].
Jegliche Massnahme, die gegen den persönlichen Willen von betroffenen Personen implementiert wird, kann als Zwangsmassnahme verstanden werden [2]. Zwangsmassnahmen kommen in der Psychiatrie zur Anwendung, um eine notwendige psychiatrische Behandlung zu ermöglichen und eine direkte Selbst- und/oder Fremdgefährdung abzuwenden. Im psychiatrischen Kontext zählen hierzu unter anderem die fürsorgerische Unterbringung (FU), Zwangsernährung, Zwangsmedikation, Fixierung, Isolation, das Festhalten sowie der Gebrauch des Rückhalterechts [2, 3].
Nebst den intendierten Auswirkungen können Zwangsmassnahmen auch unerwünschte Auswirkungen mit sich bringen [4-7]. Sie können (re)traumatisierend für Patientinnen und Patienten sein [4], sich negativ auf die therapeutische Atmosphäre und die Patienten-Therapeuten-Beziehung auswirken sowie die Motivation der Patienten und den Therapieverlauf nachhaltig beeinträchtigen [5-7]. Die Anwendung von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie ist daher Notfallsituationen vorbehalten, in welchen eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung von betroffenen Personen vorliegt und die Anwendung weniger eingreifender Massnahmen ausgeschöpft ist. Sowohl aus rechtlicher, ethischer als auch aus wissenschaftlicher Perspektive lässt sich das klare Ziel einer Reduktion von Zwangsmassnahmen ableiten [2, 8-11].
Eine «offene Türpolitik» trägt zur Reduktion von Zwangsmassnahmen bei.
© Elena Schweitzer / Dreamstime

Rechtliche Grundlage

Die rechtliche Grundlage zur Anwendung von Zwangsmassnahmen ist auf nationaler Ebene durch das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KESR; zuletzt revidiert am 01.01.2013) im schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) geregelt. Das KESR wird durch kantonale Regelungen ergänzt. Diese betreffen beispielsweise bei der FU Spezifikationen bezüglich den Ausführungsbestimmungen [2, 12, 13]. Zudem dienen die medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) als Anwendungsrahmen von Zwangsmassnahmen [2]. Nebst den nationalen und kantonalen gesetzlichen Grundlagen finden sich auch auf internationaler Ebene relevante rechtliche Abkommen. Hierzu zählt unter anderem die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), die in der Schweiz im Jahr 2014 vom Parlament ratifiziert wurde. Sie fordert eine inklusive Gesellschaft und betont das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Freiheit und Sicherheit [14].

Zwangsmassnahmen in der Schweiz

In der Schweiz zeigt sich je nach psychiatrischer Klinik eine heterogene Lage bezüglich der Umsetzung von Zwangsmassnahmen [15, 16]. Sowohl Unterschiede in den kantonal rechtlichen Grundlagen, den klinikinternen Richtlinien und Bestimmungen sowie bezüglich den Versorgungsaspekten können hier zum Tragen kommen [1, 17, 18]. Insgesamt lässt sich jedoch eine steigende Tendenz der Anwendung von Zwangsmassnahmen verzeichnen. In den psychiatrischen Kliniken der Akut- und Grundversorgung lag im Jahr 2021 der Anteil von Fällen mit mindestens einer Zwangsmassnahme bei 11,5%. Im Vorjahr waren es 10,3% [15]. Das schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) verzeichnete spezifisch in der Anzahl der FUs einen Anstieg. Im Jahr 2021 wurden in der Schweiz 16 487 Personen per FU in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. 2019 waren es 14 561 Fälle [16]. Basierend auf dieser steigenden Tendenz scheint auch die Auswertung zur Umsetzung der BRK nicht zu erstaunen. Im März 2022 wurde die Schweiz bezüglich der Umsetzung der BRK geprüft. Diese Evaluation zeigte, dass die Schweiz die Anforderungen der BRK noch nicht erfüllt hat. Es braucht weitere Massnahmen, um mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen [19, 20].

Reduktion durch offene Türpolitik

Interventionen zur Reduktion von Zwangsmassnahmen können klinikintern unter anderem auf Individualebene (Personalschulung, Psychotherapie etc.) und auf struktureller Ebene (Personalschlüssel, offene Stationstüren, kleinere Stationen etc.) ansetzen. Bisherige Studien weisen darauf hin, dass Interventionsprogramme, welche Massnahmen auf unterschiedlichen Ebenen berücksichtigen, besonders wirksam erscheinen [21, 22].
Die offene Türpolitik oder das «Trackkonzept» stellt eine Interventionsstrategie dar, die unter Berücksichtigung verschiedener Interventionsebenen zur Reduktion von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie beitragen kann [11, 22-24]. So zeigte eine Beobachtungsstudie von 2017 in Institutionen mit einer offenen Türpolitik weniger Zwangsmassnahmen als in Institutionen mit einer geschlossenen Türpolitik [24].
In den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel wurde die offene Türpolitik seit 2012 kontinuierlich etabliert. Die offene Türpolitik umfasst hierbei weit mehr als das mechanische Öffnen von Stationstüren und bedingt Veränderungen in verschiedensten Behandlungsmechanismen und Aspekten. In den UPK Basel wurden im Rahmen der offenen Türpolitik neue Eintritts- und Behandlungspfade definiert, therapeutische Kompetenzzentren und Abteilungen etabliert, Schulungen zu Deeskalations- und Aggressionsmanagements eingeführt, das therapeutische Angebot ausgebaut sowie die Partizipation der Patientinnen und Patienten gestärkt. Patientinnen und Patienten werden direkt auf diagnosespezifische Stationen untergebracht, in Krisensituationen erfolgt keine Verlegung und auf allen Stationen wird eine psychotherapeutische Behandlung gewährleistet [11, 23, 25-27].
Dies ermöglicht eine kontinuierliche, individualisierte Behandlung und kann sich unter anderem auf die Patienten-Therapeuten-Beziehung, die Stationsatmosphäre und die Patientenzufriedenheit positiv auswirken und so essentiell zur Reduktion von Zwangsmassnahmen beitragen [11, 22, 23, 27-29].

Für Sie zusammengefasst vom:

DGPPN-Kongress | 23.-26.11.2022 | Berlin
Prof. Dr. med. Christian Huber
ist Chefarzt und stellvertretender Klinikdirektor an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und leitet die Forschungsgruppe für Psychiatrische Versorgungsforschung an der Universität Basel.
1. Fröhlich D, Schweinfurth N, Lang UE, Huber CG. Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie. Leading Opinions Neurologie & Psychiatrie. 2017;3:30-32.
2. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Zwangsmassnahmen in der Medizin. Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW. Basel: SAMW; 2018.
3. Nationaler Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ). EFM. Erfassungsinstrument Freiheitsbeschränkender Massnahmen ab Messjahr 2021. Bern: ANQ; 2022.
4. Frueh BC, Knapp RG, Cusack KJ, Grubaugh AL, Sauvageot JA, Cousins VC, Yim E, Robins CS, Monnier J, Hiers T. Special section on seclusion and restraint: Patients' reports of traumatic or harmful experiences within the psychiatric setting. Psychiatric services. 2005;56(9):1123-1133.
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