Muskelshirt mal anders

Wissen
Ausgabe
2023/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21512
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(07):60-61

Publiziert am 15.02.2023

Innovation Tragbare Muskeln: Das klingt wie der Stoff für einen Science-Fiction-Film, könnte aber ein alltägliches Accessoire werden. Ein Team der ETH Zürich hat ein Shirt entwickelt, das Personen mit Muskelschwäche wortwörtlich unter die Arme greift. Wie die Forschenden damit die Therapie revolutionieren wollen und warum sogar Gesunde von der Technologie profitieren könnten.
Ein Buch aus dem Regal nehmen oder eine Wasserflasche an den Mund führen. Für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit – aber für Personen, die an Muskelschwäche leiden, eine grosse Herausforderung. Ihnen will der Ingenieur Michele Xiloyannis helfen. Mit seinem Team vom Sensory-Motor Systems Lab der ETH Zürich hat er das sogenannte «Myoshirt» entwickelt, einen tragbaren Roboter, der wie ein Kleidungsstück angezogen wird.

Unterstützung im Alltag

Bereits seit einigen Jahren werden Reha-Roboter in der Physio- und Ergotherapie unterstützend eingesetzt. Die meist starren Exoskelette sind jedoch «schwer, gross und vor allem unhandlich und können nur unter der Anleitung einer therapeutischen Fachperson in der Klinik oder im Labor eingesetzt werden», sagt Xiloyannis. Weil aber immer mehr Menschen zu Hause behandelt werden, wächst der Bedarf an mobilen Robotern für die ambulante Therapie.
Der Ingenieur breitet den Prototyp des Myoshirts auf dem Tisch vor sich aus und erklärt: «Die Schulterorthese sowie die Manschetten an Ober- und Unterarm schnallt man sich wie eine Art Gurtzeug um. Die eigentlichen Muskeln bestehen aus Dyneema Seilen, wie man sie von Fallschirmen kennt.» Eines seiner Hauptziele war es, ein Gerät zu entwickeln, das leicht und vor allem tragbar ist, um es in Alltagssituationen einsetzen zu können: «Nur so gewinnen Personen mit Beeinträchtigungen ein Stück Selbständigkeit zurück», betont Michele Xiloyannis, bevor er eine Kiste auf den Tisch hievt, die in etwa so gross und so schwer ist wie ein Sixpack aus der Getränkeabteilung: «Die Antriebs- und Steuereinheit befindet sich noch in dieser externen Box, soll aber später verkleinert und in die Brustweste integriert werden.» Ganz so leicht wie im Actionfilm ist es also im echten Leben nicht mit den Superkräften.

Der Schwerkraft trotzen

Bei der Anwendung hat das Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Robert Riener vor allem auf die intuitive Bedienung Wert gelegt. Sogenannte Inertialsensoren messen in Echtzeit die Position des Arms im Raum. Dabei berücksichtigen sie auch dessen Neigung und Beschleunigung. Der externe Prozessor errechnet schliesslich, wie viel Kraft von Aussen zugefügt werden muss. Xiloyannis: «Letztlich geht es darum, ein Kabel im richtigen Moment zu ziehen und zu entspannen. So funktionieren Muskeln.»
Personen mit Muskelschwäche in den oberen Extremitäten kämpfen vor allem gegen die Schwerkraft an, wie der Forscher betont: «Wenn wir den Arm nach oben bewegen, müssen wir das Gewicht des Arms und jedes Objekts, das wir in der Hand halten, tragen. Für uns ist das leicht, aber für Menschen mit Muskelschwund ist das eine grosse Herausforderung. Normalerweise können sie nur eine bestimmte Höhe erreichen, danach sind ihre Muskeln nicht mehr stark genug, um den Arm weiter anzuheben.» Mit dem Myoshirt zieht man sich also eine Art zusätzliche Muskelschicht an.

Das Schulterblatt stabilisieren

Kraft allein hilft aber nicht. Bei Muskelschwäche hapert es auch an der Stabilität. Entscheidend ist die Schultermuskulatur: «Wenn diese geschwächt ist, bewegen sich die Schulterblätter nicht synchron mit der Schulter und es kommt zu einer Scapula alata.» Dieses flügelartige Abstehen des Schulterblatts schränke den Bewegungsspielraum des gesamten Arms ein. Der Ingenieur erklärt: «Wenn die Schulter nicht funktioniert, sind auch der Ellbogen und die Hände nutzlos.» Aus diesem Grund besteht das Myoshirt nicht nur aus Exomuskeln sondern auch aus einer eng ansitzenden Orthese, die das Schulterblatt stabilisiert. Für den Benutzer fühlt sich das Myoshirt an «wie ein angenehmes Korsett», sagt Michele Xiloyannis.
In ihrer Studie konnte das Team der ETH zeigen, dass Mithilfe des Myoshirts 70% der auf die Schulter wirkenden Gravitationskräfte kompensiert werden, wodurch der Arm leichter und vor allem länger angehoben werden kann [1]. Die Rückmeldung der Studienteilnehmer zu subjektiver Anstrengung, die mittels Borg Skala eingeholt wurde, und die objektiv gemessenen Daten, seien für das Team ermutigend: «Wir waren fast ein wenig überrascht, dass der Effekt so gross war, was die Verzögerung der Muskelermüdung angeht.»
Dr. Marie Georgarakis hat an dem Projekt mitgearbeitet und zeigt das Myoshirt.
© ETH Zürich/Florian Haufe

E-Bike für die Arme

Michele Xiloyannis kann sich vorstellen, dass von tragbaren Exomuskeln auch Menschen profitieren könnten, deren Schulter berufsbedingt stark belastet wird – zum Beispiel weil sie wiederholt Objekte heben müssen: «Viele Menschen führen Überkopfarbeiten aus. Das wirkt sich negativ auf die Schultern, den Nacken und den Rücken aus. Eine mögliche Anwendung könnte darin bestehen, die Schultern bei diesen Arbeiten zu unterstützen.» Übermenschliche Kräfte könne die Erfindung aber niemandem verleihen: «Stellen Sie sich das wie ein schwaches E-Bike vor. Wenn es Ihnen einen Teil der Arbeit abnimmt, müssen Sie sich immer noch selber anstrengen. Aber vielleicht fahren Sie dann öfter und weiter.»

Langzeitstudien stehen noch aus

Ein solches Gerät kann einen medizinischen Nutzen haben, sagt auch der Neurologe Prof. Dr. med. Hans Jung: «Eine kausale Therapie ist bei vielen genetisch bedingten Muskeldystrophien nicht möglich. Ich halte es deshalb für eine interessante, sinnvolle und zukunftsgerichtete Ergänzung zu den bisherigen Therapiekonzepten.» Allerdings sei es noch zu früh, um von einem «relevanten Benefit für die Patienten bezüglich Funktion und Lebensqualität» zu sprechen, wie der Leitende Arzt der Klinik für Neurologie des Universitätsspitals Zürich betont: «Wenn jedoch robuste Studiendaten vorliegen, dann könnte man auch über eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen als Medizinisches Hilfsmittel nachdenken.»
Um die Beschaffung dieser Daten kümmert sich seit 2021 die Ingenieurin Chiara Basla. In ihrem Doktoratsprojekt untersucht sie die Benutzerfreundlichkeit des Vorgängerprojektes, des Myosuits, zur Unterstützung der Beinmuskulatur. Dieser wird bereits in der Rehabilitation eingesetzt und ist als medizinisches Hilfsmittel anerkannt. Michele Xiloyannis ist zuversichtlich, dass auch das Myoshirt diese Hürde nehmen wird: «Sobald wir ein Gerät haben, das robust und sicher genug ist, um von den Patienten selbständig verwendet zu werden, ist der nächste Schritt, die Auswirkungen auf die Lebensqualität zu untersuchen.»
1 doi.org/10.1038/s42256-022-00495-3