Wie wichtig zuhören wirklich ist

Praxistipp
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21516
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):78-79

Publiziert am 22.02.2023

Arzt-Patienten-Kommunikation Gibt es mehrere Behandlungsoptionen, haben Patientinnen und Patienten ein Anrecht darauf, in Entscheidungen einbezogen zu werden. Aber nicht alle geben eindeutige Antworten – und manche wollen gar nicht entscheiden. Wie kann man die Wünsche erkennen?
Mehrfach schon wurde auch in der Schweizerischen Ärztezeitung über die Notwendigkeit der gemeinsamen Entscheidungsfindung (Shared Decision Making, SDM) von Fachpersonen und Patientinnen und Patienten berichtet [1]. Immer wieder wird festgestellt, dass SDM seltener praktiziert als gefordert wird [2]. Tatsächlich müssen nicht alle Entscheidungen gemeinsam und unter Einbeziehung der Werte und Präferenzen von Patientinnen und Patienten getroffen werden. Holzer und Biller-Andorno [3] grenzen den Anwendungsbereich von SDM auf Situationen ein, in denen mehr als eine Behandlungsoption besteht und die Behandlungspräferenzen der betroffenen Person unklar sind.
Ja, Patientinnen und Patienten haben ein Anrecht auf gemeinsame Entscheidungsfindung, allerdings nicht auf einen bestimmten Entscheid, der ihnen am ehesten zusagt. Ergänzt wird das Recht auf Information und Gehör um die Verpflichtung der Fachperson, eine wirkungs- und aussichtslose Behandlung abzulehnen, auch wenn sie von der betroffenen Person gewünscht wird [4]. Ausserdem ist klar: Längst nicht alle Patienten und Patientinnen wollen eine gemeinsame Entscheidungsfindung. Der Anteil an Betroffenen, die ausdrücklich SDM wünschen, und der Personen, die alleine entscheiden möchten oder den Entscheid der Fachperson überlassen, hängt von der untersuchten Kohorte und der klinischen Fragerstellung ab. Fakt ist: Es ist nicht vorhersehbar, wer SDM möchte und wer nicht. Darüber muss man sich bei der Kommunikation klar sein.

Zuhören statt Informationsflut

Aber wie kann man herausfinden, was die Patientin oder der Patient wünscht? Präferenzen gehören in den Bereich der subjektiven Tatsachen. Und die muss man sich erzählen lassen. Man kann sie nicht gezielt erfragen. Daher ist die Umsetzung von SDM eng verknüpft mit der Bereitschaft von Fachpersonen, Betroffenen «bei ihrer Geschichte» zuzuhören.
Das ist wichtiger als die Informationsflut von ärztlicher Seite. In den vergangenen Jahren ist in der SDM-Debatte ein neuer Gesichtspunkt aufgetaucht, nämlich das Risiko, durch (zu) ausführliche Informationen einen eigentlichen Nocebo-Effekt auszulösen. Gerade in der Anästhesie wird darüber diskutiert, ob nicht eine umfassende Aufklärungspflicht, wie sie in den meisten Ländern gesetzlich gefordert wird, dazu führt, dass Patientinnen und Patienten überwältigt werden von der Vielzahl möglicher wesentlicher Nebenwirkungen. Sie würden nicht im Sinne des Shared Decision Making an einen klugen Entscheid herangeführt, sondern häufig verunsichert und verwirrt [5].
© Luca Bartulović

Argumente und Bauchgefühl

Ein weiterer Aspekt, der in der SDM-Diskussion zu wenig aufgegriffen wird, ist die grundlegende Frage, wie wohlüberlegte Entscheidungen zustande kommen. Sind sie tatsächlich das Resultat eines Abwägens verschiedener Pro- und Contra-Argumente, die im Rahmen eines Aufklärungsgespräches einzeln präsentiert werden? Diese einzelnen Argumente müssten gehört, verstanden und schliesslich behalten werden, um Eingang in den Entscheidungsprozess zu finden [6]. Die empirische Literatur zeigt, dass jeder dieser Schritte kritisch und fehlerbehaftet ist und dass rationale Entscheidungen durch kluges Abwägen jenseits von vier Argumenten abgelöst werden von intuitiven Entscheidungen, bei denen Betroffene vor allem ihrem Bauchgefühl folgen. Auf die Frage «Was hat denn die Ärztin alles mit Dir besprochen?» von Angehörigen antworten sie dann: «Wie genau das geht, weiss ich auch nicht mehr, aber sie kennt sich aus. Die weiss, was sie tut!» [7]. Ob das ein schlechter Entscheid ist? Ich glaube nicht.
Wolf Langewitz
ist Professor emeritus für Psychosomatik am Universitätsspital Basel und schreibt an dieser Stelle regelmässig über Arzt-Patienten-Kommunikation.
1 Rosca A et al.; Gemeinsame Entscheidungsfindung. Schweiz Ärzteztg. 2020;101:1239-1241
2 Driever EM, Stiggelbout AM, Brand PLP: Do consultants do what they say they do? Observational study of the extent to which clinicians involve their patients in the decision-making process. BMJ Open 2022;12:e056471. doi:10.1136/bmjopen-2021-056471
3 Holzer F & Biller Andorno N: Gemeinsame Entscheidungsfindung als Imperativ der modernen Medizin? Therapeutische Umschau (2022), 79(8), 365–370 https://doi.org/10.1024/0040-5930/a001376
4 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Wirkungslosigkeit und Aussichtslosigkeit – zum Umgang mit dem Konzept der Futility in der Medizin. Bern: SAMW; 2021.
5 Chrimes N, Marshall SD. The illusion of informed consent. Anaesthesia 2018;73:9–14
6 Langewitz W: Reaching wise decisions, shared decision making, and information recall—A causal relationship or just an association? Patient Education and Counseling 103 (2020) 2–4
7 Vigo R. The GIST of concepts. Cognition 2013;129:138–62.