Suizidprävention in der Schweiz

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21535
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(10):67-68

Publiziert am 08.03.2023

Prävention Sechs Jahre nach dem Start des Schweizer Aktionsplans Suizidprävention zeigt sich eine positive Zwischenbilanz. Dennoch bleibt viel zu tun bis 2030, wenn das angestrebte Ziel einer Reduktion der Suizidrate um 25% erreicht werden soll – Ärztinnen und Ärzten kommt dabei eine wichtige und tragende Rolle zu.

Suizidalität in der Schweiz

Die Anzahl der Suizide (ohne assistierte Suizide) in der Schweiz ist seit den 80er Jahren leicht rückläufig. Im Jahr 2020 lag sie mit 972 Fällen erstmals seit über 60 Jahren unter 1 000 [1]. Nach wie vor führen Suizide jedoch jährlich zu mehr Todesfällen als Strassenverkehrsunfälle, Aids und Vergiftungen mit psychoaktiven Substanzen zusammen. Die Suizidrate steigt mit zunehmendem Alter an. Suizidversuche hingegen sind bei Jugendlichen besonders häufig, dies hat sich bei jungen Frauen während der Coronapandemie leider noch verschärft [2]. Suizide und Suizidversuche sind Ausdruck menschlicher Verzweiflung. Sie belasten auch das Umfeld von suizidalen Personen und treten überwiegend im Zusammenhang mit Krisensituationen oder schweren, lang andauernden körperlichen oder psychischen Belastungen auf. Bis zu 90% der Betroffenen leiden zum Zeitpunkt ihres Suizides an einer psychischen, oft behandelbaren Erkrankung, am häufigsten einer Depression [3]. Suizidale Menschen wollen in der Regel nicht sterben, sondern ihr unerträgliches Leid beenden. Durch evidenzbasierte Massnahmen zum passenden Zeitpunkt können Suizide daher oftmals verhindert werden. Viele Faktoren spielen mit, wenn es zu suizidalen Handlungen kommt. Daher ist es wichtig, dass die Prävention auch bei verschiedenen Handlungsfeldern ansetzt. Eine davon ist die ärztliche Grundversorgung.

Suizidprävention in der ärztlichen Grundversorgung

Ärztinnen und Ärzte in der medizinischen Grundversorgung nehmen eine Schlüsselposition ein, wenn es darum geht, Depressivität oder suizidale Gefährdung frühzeitig zu erkennen und geeignete Massnahmen zu treffen. Einerseits dank der teilweise langjährigen, vertrauensvollen Beziehung und andererseits wegen der Tatsache, dass sich Suizidalität oft hinter somatischen und anderen medizinischen Beschwerden «verbirgt». Wenn etwa Patienten über diffuse Schmerzen oder Erschöpfung klagen, lohnt es sich, direkt und konkret nach Suizidgedanken zu fragen, beispielweise: «Ich stelle mir vor, dass Ihre Situation sehr belastend ist; andere Menschen haben in solchen Situationen manchmal das Gefühl so nicht mehr leben zu wollen.» Falls das auf die Patientinnen und Patienten zutrifft, sollte die Häufigkeit und Intensität exploriert werden, um abschätzen zu können, ob eine medikamentöse, psychotherapeutische Intervention oder gar eine stationäre Behandlung indiziert ist.
Zur verbesserten Suizidprävention beim stationär-ambulanten Übergang finanziert Gesundheitsförderung Schweiz im Rahmen der Prävention in der Gesundheitsversorgung vier Projekte in der Suizidprävention. In drei Projekten wird das für Patientinnen und Patienten nach einem Suizidversuch wirksame Kurztherapieprogramm ASSIP (Attempted Suicide Short Intervention Program, www.assip.org) in der Schweiz weiterverbreitet bzw. weiterentwickelt, unter anderem auch für Jugendliche (AdoASSIP). Weitere Materialien für die Psychiatrie (Fachpersonen und Angehörige) finden sich auf der Website des BAG (https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-auftraege-und-aktionsplaene/aktionsplan-suizidpraevention/suizidpraevention-psychiatrische-versorgung.html).

Suizidprävention in der Schweiz

Seit 2016 gibt es in der Schweiz den Nationalen Aktionsplan Suizidprävention, der durch Bund und Kantone gemeinsam mit Gesundheitsförderung Schweiz und weiteren Akteuren erarbeitet wurde [4]. Der Zwischenbericht 2021 zum Stand der Umsetzung des Aktionsplans zieht eine positive Bilanz [5]. Vieles konnte umgesetzt werden, der Handlungsbedarf bleibt jedoch hoch (für weitere Informationen siehe SPECTRA Suizidprävention in der Schweiz macht Fortschritte (www.spectra-online.ch).
So verfügen beispielsweise fast alle Kantone über ein kantonales Aktionsprogramm zur Förderung der psychischen Gesundheit mit Fokus Ressourcenstärkung bei Kindern und Jugendlichen sowie älteren Menschen.

Herausforderungen und Ausblick

Trotz aller positiven Entwicklungen bleibt noch viel zu tun. Speziell bei der besonders wirksamen Einschränkung von Suizidmethoden, wie beispielsweise Waffen oder Medikamente, werden in der Schweiz wenig Massnahmen umgesetzt. Ein eindrückliches Beispiel für die Wirksamkeit einer solchen Massnahme ist die Einführung der Armeereform XXI (2003/2004), die zu einer Reduktion von Waffen und Munition in den Schweizer Haushalten und zu markant weniger Suiziden bei jungen Männern führte [6]. Auch hier können Ärztinnen und Ärzte präventiv wirken, in dem sie bei gefährdeten Patientinnen und Patienten nach verfügbaren Mitteln (z. B. Medikamente, Waffen) fragen und diese, falls möglich, sicherstellen lassen.
Es zeigt sich: Suizidprävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das gilt auch für das Engagement der Ärzteschaft, die einerseits eine bedeutsame Rolle in der Früherkennung und Behandlung innehat und andererseits als Multiplikator in der Suizidprävention wirken kann.

Für Sie zusammengefasst vom:

DGPPN-Kongress
23.-26.11.2022
Berlin

Suizidgedanken ansprechen hilft

Für eine wirksame Suizidprävention ist es wichtig, dass Betroffene über allfällige Suizidgedanken sprechen oder auf vermutete Suizidgedanken angesprochen werden. Da das Thema Suizid gesellschaftlich tabuisiert ist, kommt der Entstigmatisierung und Wissensvermittlung hohe Bedeutung zu. Auf der dreisprachigen Website www.reden-kann-retten.ch bieten das BAG und der Kanton Zürich Betroffenen, besorgten Angehörigen und auch Hinterbliebenen nach Suizid wichtige Informationen und konkrete Handlungsmöglichkeiten. Der Flyer (mit Notfallkarte) «Suizidgedanken - Informationen für Betroffene und Angehörige» kann in jedem ärztlichen Setting hilfreich sein und kostenlos bestellt werden.
Martina Blaser
leitet das kantonale Programm Suizidprävention bei «Prävention und Gesundheitsförderung Kanton Zürich» (Abteilung des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention, UZH).
Dr. med. Sebastian Haas M.H.A.
ist stellvertretender ärztlicher Direktor und Leiter Burnout und Belastungskrisen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.
1 Bundesamt für Statistik (BFS). Todesfälle. Medienmitteilung vom 03.10.22. https://www.bfs.admin.ch/asset/de/23446122 (abgerufen am 31.01.2023).
2 Fernandez-Rodrigues V, et al. Risk factors for suicidal behaviour in late-life depression: A systematic review. World J Psychiatry. 2022;12(1):187-203.
3 Jäggi J, et al. Der Einfluss der COVID-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit in der Schweiz. Aktualisierte Übersichtsstudie. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-auftraege-und-aktionsplaene/politische-auftraege-im-bereich-psychische-gesundheit.html (abgerufen am 31.01.2023).
4 Gesundheitsförderung Schweiz. Nationaler Aktionsplan Suizidprävention. 2016. https://gesundheitsfoerderung.ch/sites/default/files/migration/documents/Suizidpraevention_in_der_Schweiz.pdf (abgerufen am 02.01.2023).
5 Trageser J, et al. Schlussbericht «Zwischenstand Umsetzung Nationaler Aktionsplan Suizidprävention, 2021. https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/psychische-gesundheit/politische-auftraege/motion-ingold/bericht_suizidpr%C3%A4vention.pdf.download.pdf/Bericht%20Suizidpr%C3%A4vention%20Aktionsplan%202016.pdf (abgerufen am 31.01.2023).
6 Reisch T, et al. Change in suicide rates in Switzerland before and after firearm restriction resulting from the 2003 «Army XXI» reform. The American Journal of Psychiatry. 2013. https://ajp.psychiatryonline.org/doi/full/10.1176/appi.ajp.2013.12091256 (abgerufen am 31.01.2023).