«Mehr Supervision, Unterricht und Coaching während der Arbeit»

SIWF
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21538
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):28-30

Affiliations
Freie Journalistin

Publiziert am 22.02.2023

Der Reformer Medizinisches Fachwissen ist nicht alles, was einen guten Arzt oder eine gute Ärztin ausmacht. Der kanadische Notfallmediziner Jason R. Frank erklärt, weshalb er sich seit 30 Jahren für kompetenzbasierte medizinische Bildung einsetzt, und was dabei wichtig ist.
Jason R. Frank, Sie arbeiten seit 2002 als Notfallmediziner am Ottawa Hospital. Zudem sind Sie Professor an der Universität Ottawa und einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der kompetenzbasierten medizinischen Aus- und Weiterbildung. Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit medizinischer Bildung zu beschäftigen?
Durch Zufall. Ich komme aus einer kleinen Stadt im hohen Norden Kanadas und wollte schon als kleiner Junge Arzt werden. Als ich an der Universität von Ottawa mein Medizinstudium aufnahm, wurde die Art und Weise, wie Medizinstudierende unterrichtet werden, gerade radikal verändert. Ich wurde zum Studentenvertreter gewählt und sass deshalb in vielen Ausschüssen mit meinen Professorinnen und Professoren. Die Debatten darüber, wie der neue Lehrplan am besten umzusetzen sei, zogen sich lange hin. Also ging ich in die Bibliothek, um mich selbst schlau zu machen zum Thema. Und ich entdeckte, dass es eine ganze Disziplin gibt, die sich medizinische Bildung nennt und in der man erforscht, wie man Ärztinnen und Ärzte am besten aus- und weiterbildet. Sie ist bis heute meine Leidenschaft, und ich habe sogar eine Pause vom Medizinstudium eingelegt, um zusätzlich einen Abschluss in medizinischer Bildung zu machen. Denn die Forschung zeigt: Eine bessere Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten führt zu besseren Ergebnissen für die Patienten.
Symbolbild: Ein Assistenzarzt bespricht mit seiner Ausbildnerin seine Kompetenzen.
© Nyul / Dreamstime
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
In einer Studie untersuchte der US-Amerikanische Arzt und Medizinprofessor David Asch Geburtshelferinnen und -helfer und ihre Ergebnisse bei der Entbindung von Babys. Er stellte fest, dass die Komplikationsrate der besten Ärztinnen und Ärzte um 30 Prozent tiefer war als diejenige der Ärztinnen und Ärzte mit den meisten Komplikationen. Ein so grosser Unterschied zwischen einzelnen Medizinern ist nicht akzeptabel. Die medizinische Bildung ist weltweit auf einem Höchststand, sie ist sehr gut. Aber die Kompetenzen von Ärztinnen und Ärzten sind beim Abschluss ihrer Weiterbildung variabel, und das ist suboptimal für unsere Patienten.
Die Studie von Asch zeigte auch, dass die Komplikationsrate der Weiterbildenden die Komplikationsrate ihrer Weiterzubildenden bestimmt. Das machte einmal mehr klar: Bildung ist enorm wichtig! Die medizinische Bildung sollte sicherstellen, dass unsere Absolventen so gut sind, wie sie sein können. Das ist meine Lebensaufgabe, und genau darum geht es bei der kompetenzbasierten medizinischen Bildung.
Sie waren an der Einführung eines Rahmens für die kompetenzbasierte medizinische Bildung in Kanada beteiligt. Was waren wichtige Veränderungen seither?
Eine grosse Veränderung bestand darin, dass wir in der Weiterbildung von einem auf Zeit basierten Konzept zu einem System übergegangen sind, bei dem der Fokus auf den Kompetenzen der angehenden Spezialärztinnen und Spezialärzte liegt.
In den 1990er Jahren musste ich, um Notarzt zu werden, ein fünfjähriges Programm durchlaufen, das aus der Rotation durch verschiedene Stationen und Dienste bestand. Feedback oder Unterricht bekam ich nur sehr selten. Ich war einfach da, sah Patientinnen und Patienten und gab mein Bestes. Ich war sehr selbständig, was gut war. Aber da ich nicht beaufsichtigt wurde, überprüfte niemand, ob ich bei meinem Abschluss die nötigen Kompetenzen eines Notarztes besass. Das neue System basiert nicht mehr auf der Zeit.
Es ist jetzt also möglich, dass jemand sechs Jahre für dieselbe Spezialisierung braucht, oder nur vier?
Ja, beides ist der Fall. Nach wie vor machen 98 Prozent der Leute ihre Weiterbildung in fünf Jahren, für eine primäre Spezialisierung. Aber jetzt hat jeder einzelne Weiterzubildende ein massgeschneidertes Programm, angepasst an seine Bedürfnisse und Interessen. Anstatt dass jede und jeder einen Monat dies, drei Monate das, zwei Monate das macht, haben wir jetzt eine gewisse Vielfalt.
Zeitliche Variabilität ist kein wesentlicher Bestandteil der kompetenzbasierten medizinischen Aus- und Weiterbildung, sie wird nicht in jedem Land praktiziert. Wesentlich ist, dass jeder Studiengang einen Nachweis darüber erbringt, dass die Absolventinnen und Absolventen über alle Fähigkeiten verfügen, die sie als gute Ärztinnen und Ärztinnen brauchen. Und für einen medizinischen Abschluss müssen Weiterzubildende nun genau definierte Stufen durchlaufen.
Was sind solche Stufen in der Notfallmedizin?
Früher heiss einfach: Willkommen, hier ist Ihre Patientin. Heute werden die Weiterzubildenden an einen Workshop und in ein Simulationszentrum geschickt, bevor sie mit der Arbeit beginnen. Und dann, in der Anfangsphase ihrer Assistenzzeit, müssen sie dabei beobachtet werden, wie sie unter anderem jemanden mit Brustschmerzen, mit Bauchschmerzen und mit Atemnot untersuchen. Die Beobachtungen sind kurz, sie dauern nur ein oder zwei Minuten, aber sie müssen aufgezeichnet werden. Das bedeutet, dass es irgendeine Form von Berichten über ihre Kompetenzen geben muss, damit sie zur nächsten Stufe kommen. Die meisten sind nach drei Monaten mit dieser ersten Stufe fertig.
So funktioniert es über die gesamten fünf Jahre hinweg. Für gute Lehrerinnen und Lehrer hat sich nicht viel verändert, ausser dass sie gebeten werden, ein wenig mehr zu beobachten und aufzuzeichnen.
Der kanadische Rahmen für kompetenzbasierte medizinische Bildung basiert auf den verschiedenen Rollen von Ärztinnen und Ärzten: Sie sind etwa medizinische Experten, Kommunikatoren, Mitarbeitende und Manager. Wie können all diese Kompetenzen richtig bewertet werden?
Wir empfehlen, dass die Medizin eine Vielzahl von Bewertungsinstrumenten einsetzt. Es gibt Hunderte davon. Zum Beispiel gibt es das so genannte OSCE: eine objektiv strukturierte klinische Prüfung (Objective Structured Clinical Exam). Dabei geht man von Raum zu Raum, wobei in jedem Raum ein Schauspieler oder eine Schauspielerin jemanden mit einem Problem simuliert. Aber was kompetenzbasierte Leute wie ich wirklich vorantreiben, ist, dass viel mehr beobachtet wird am tatsächlichen Arbeitsplatz. Es geht nicht darum, nur zu hören, was ein Weiterzubildender den ganzen Tag gemacht hat, oder nur von dem Fall zu hören, an dem er oder sie gearbeitet hat, sondern tatsächlich zu sehen, wie die Leute Teile von Fällen bearbeiten.

Weltweit führender Wissenschaftler

Jason R. Frank schloss 1997 sein Medizinstudium an der Universität Ottawa ab. Danach absolvierte er eine Facharztausbildung in Notfallmedizin an der Universität von Toronto, die er 2002 mit dem Facharzttitel abschloss. Parallel dazu schloss er an der Universität Toronto zudem einen Master in medizinischer Bildung ab.
Seit 2002 ist er Notfallmediziner am Universitätsspital Ottawa, seit 2003 ist er Professor an der Universität Ottawa. Weil er einer der weltweit führenden Forschenden auf dem Gebiet der kompetenzbasierten medizinischen Aus- und Weiterbildung ist, lud ihn das Schweizerische Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung SIWF im November 2022 für eine Woche in die Schweiz ein, wo er unter anderem die Universitätsspitäler Lausanne und Basel sowie die medizinische Fakultät der Universität Genf besuchte.
Wie viel Zeit ist nötig für diese Beobachtungen?
Jeweils nur ein paar Minuten, jeden Tag oder zumindest ein paar Mal pro Woche. Das ist unser Ziel.
Und wie werden die Beobachtungen aufgezeichnet?
Meistens auf einem Smartphone, mit einer speziellen Software. In der Praxis kann das so laufen: Eine Weiterzubildende sagt mir: Hey, ich werde mir diesen Patienten mit Brustschmerzen ansehen. Kannst du kommen und zusehen, nur die Anamnese? Ich gehe dann mit ans Krankenbett und schaue zu, und danach treffen wir uns kurz noch und ich sage ihr, was sie gut gemacht hat und was sie hätte besser machen können. Und dann füllen wir auf dem Smartphone ein Formular dazu aus, das dann ins Portfolio der Weiterzubildenden kommt.
Als Lehrkraft an der Front ist es nicht meine Aufgabe, Entscheidungen über die Fortschritte eines Weiterzubildenden zu treffen. Das macht dann ein Ausschuss, der alle Daten zusammenträgt. Wir haben festgestellt, dass die Leute in diesem neuen System in der Regel schneller lernen. Wenn sie sich mit etwas schwertun, können wir das sehr früh feststellen und ihnen helfen, ihre Lücke zu schliessen. Und anstatt Wissenslücken zu verstecken, sagen wir: Das ist in Ordnung, wir versuchen, aus dir einen guten Arzt oder eine gute Ärztin zu machen.
In meiner Generation war es umso besser, je weniger meine Vorgesetzte mit mir sprach. Nicht so im neuen System. Hier gilt: Je mehr Interaktion, desto besser. Das ist es, was wir versuchen, für die nächste Generation von Ärztinnen und Ärzten zu tun: Nur ein bisschen mehr Supervision, ein bisschen mehr Lehre, ein bisschen mehr Coaching durch die Lehrperson. Um sicherzustellen, dass wir bessere Absolventinnen und Absolventen haben.
Um Notarzt, Onkologin, Chirurg oder Hausärztin zu werden, sind nicht dieselben Kompetenzen nötig. Sollte jede Disziplin ihre eigenen Schlüsselkompetenzen definieren?
Ja. Aber wir alle haben eine Art Grundgerüst mit Schlüsselkompetenzen, die für alle Ärztinnen und Ärzte gelten. Dieser Rahmen wird CanMEDS genannt. Die erste Version haben wir 1996 veröffentlicht. Die Idee kam Anfang der 1990er Jahre von den Patientinnen und Patienten in Kanada; sie waren besorgt darüber, dass sich die Ärzteschaft nicht mehr wirklich an den Patienten-Bedürfnissen orientieren würde.
Unsere medizinischen Lehrpläne waren 100 Jahre lang auf medizinisches Fachwissen, Fertigkeiten und ein wenig Professionalität und Ethik ausgerichtet. Was fehlte, waren Dinge wie Lehre, Fürsprache, Teamarbeit und Kommunikationsfähigkeiten. Jemand kann fachlich sehr gut sein, aber trotzdem Patientinnen oder Patienten schaden mit schlechten Umgangsformen am Krankenbett. Ausserdem arbeiten Ärzte und Ärztinnen nur noch selten allein. Sie müssen in der Lage sein, in einem Team zu arbeiten oder die begrenzten Ressourcen des Gesundheitswesens angemessen zu verteilen. All diese Dinge gehören zum Arztberuf im 21. Jahrhundert.
Selbst wenn man alle erforderlichen Kompetenzen mitbringt: Um gute Arbeit zu leisten, braucht es auch die richtigen Arbeitsbedingungen. Zum Beispiel genügend Zeit für eine gute Anamnese...
Ja, es gibt einige begünstigende Umweltfaktoren. Zum Beispiel muss eine Klinik so strukturiert sein, dass diese Begegnungen stattfinden können. Aber wir finden nicht, dass das radikal oder enorm ist oder viel mehr Leute braucht. Denn die Beobachtungen müssen nur kurz sein.
Als wir in Kanada diese grosse Veränderung durchführten, stellten wir fest, dass nicht die reichsten Krankenhäuser und medizinischen Fakultäten am besten abschnitten, sondern diejenigen mit der besten Führung.
Ich weiss, dass sich manche im Gesundheitswesen so gestresst fühlen, dass sie keine Neuerungen wollen. Aber wir versuchen, die Menschen zu inspirieren, ihre Praxis an das 21. Jahrhundert anzupassen, und zwar auf eine Weise, die sie als belohnend empfinden.
Prof. Dr. med. Jason R. Frank
Professor an der Universität Ottawa und Notfallmediziner am Ottawa Hospital.
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