Auf den Punkt

«Das Erdbeben ist eine Zeitbombe»

News
Ausgabe
2023/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21555
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(08):8-9

Publiziert am 22.02.2023

Katastrophenmedizin Zehntausende Menschen starben bei dem Erdbeben, das sich am 6. Februar nahe der türkisch-syrischen Grenze ereignete. Der Bund hat die Rettungskette Schweiz mobilisiert, um der Bevölkerung zu helfen. Der Arzt Olivier Hagon berichtet über den Einsatz.
Olivier Hagon, was erlebten Sie am 6. Februar?
Eine Sitzung des Krisenstabs jagte die nächste und mein Telefon klingelte ununterbrochen. Die erste Sitzung mit dem Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH) fand am selben Tag um 9 Uhr statt, das Vorausdetachement flog um 16 Uhr ab und kam um 20 Uhr am Ort des Geschehens an. Bei einem Erdbeben ist die Zeit knapp.
Angehoerige der Schweizer Rettungskette retten in Antakya in der Provinz Hatay ein Maedchen und uebergeben sie Angehoerigen. Die vier Monate alte Abir ueberlebte mit ihren Angehoerigen fast drei Tage in den Truemmern eines Wohnhauses und konnte in einer aufwaendigen Rettungsaktion durch das Schweizer Team geborgen werden.
Das Schweizer Rettungsteam bei der Bergung von Überlebenden des Erdbebens in der Südtürkei.
© EDA / Porträt unten: François Schaer/phovea/HUG
Und Sie waren nicht vor Ort?
Die Rettungskette wurde seit dem Erdbeben in Sumatra 2009 nicht mehr eingesetzt, daher ist es wichtig, dass die nächste Generation Erfahrungen sammeln kann. In der Türkei übernahm mein Kollege die Koordination vor Ort.
Welche Rolle spielen Sie?
Ich bringe die medizinische Sicht in den Krisenstab der Rettungskette ein und sorge dafür, dass für das medizinische Team vor Ort alles so reibungslos wie möglich abläuft und seine Sicherheit gewährleistet ist. Ich stehe in ständigem Kontakt mit meinen sieben Kolleginnen und Kollegen. Das sind Ärztinnen und Ärzte, Rettungssanitäterinnen und -sanitäter und Krankenpflegende. Zudem leiste ich Koordinationsarbeit zwischen der Schweiz und dem Einsatzgebiet.
Welche medizinische Hilfe leisten Sie?
Es gibt verschiedene Phasen. Wir kommen zunächst für die Rettungsphase, die bis zu sieben bis zehn Tage nach der Katastrophe dauert. Bei mehr als 36 vom SKH erfassten Erdbeben dauerte die Bergung aus den Trümmern durchschnittlich fünf bis sechs Tage. Nach der Bergung benötigen die Menschen eine medizinische Notfallversorgung. Eine typische Erkrankung ist das Crush-Syndrom, das mit einer Rhabdomyolyse verbunden ist, die durch die Kompression der Gliedmassen unter dem Schutt verursacht wird. Die Notfallversorgung ist nur die Spitze des Eisbergs: Schon bald treten humanitäre Bedürfnisse in den Vordergrund.
Können Sie das genauer erklären?
Die Katastrophe ist wie eine Zeitbombe, die sich auf die ganze Bevölkerung auswirkt. Die elektive Chirurgie wird eingestellt, weil die Spitäler überfüllt oder zerstört sind, Schwangere und chronisch Kranke haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, Wassermangel und unhygienische Verhältnisse führen zum Ausbruch von Infektionskrankheiten wie Tetanus oder Cholera. Wir müssen uns mit einem kollabierten Gesundheitssystem auseinandersetzen.
Ein Erdbeben zu erleben ist auch traumatisch.
Psychischer Stress ist ein grosses Problem. Die Bevölkerung wird jahrelang traumatisiert sein. Für unser Team ist es aufgrund der Sprache und Kultur schwierig, direkte Hilfe zu leisten. Wir versuchen, das lokale medizinische Personal einzubeziehen. Wir konzentrieren uns sehr auf die Notfallchirurgie, aber es ist wichtig, über den Tellerrand zu schauen und die Kontinuität der Versorgung zu gewährleisten.
Was werden Sie in dieser Hinsicht noch tun?
Wir haben ein Mutter-Kind-Modul entwickelt, das nach den Kriterien der WHO für medizinische Notfallteams (Emergency Medical Teams, EMT) zertifiziert ist und dieser besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe hilft. Die humanitäre Hilfe der Schweiz ist die einzige Organisation, die über ein EMT-zertifiziertes Mutter-Kind-Team verfügt. Der Bedarf ist gross: 25% der Bevölkerung in der Türkei ist jünger als 15 Jahre. Unser Ziel ist es, eine lokale Gesundheitseinrichtung zu identifizieren, in der wir helfen können, die Versorgung zu verbessern. Es geht darum, die Kinder zu versorgen und schwangeren Frauen die Möglichkeit zu geben, unter akzeptablen Bedingungen zu entbinden oder einen Kaiserschnitt zu bekommen.
Wie ist das Feedback des Teams der Rettungskette?
Die Bedingungen sind schwierig. Es ist sehr kalt, das Team schläft in Zelten, die materiellen Schäden sind immens, die Nachbeben kommen regelmässig. Die Situationen sind emotional schwer zu bewältigen. Unter den Einsatzkräften der Armee gab es viele junge Leute, die noch nie mit einer solchen Katastrophe konfrontiert waren. Das erfahrene medizinische Team hat sich auch um sie gekümmert.
Wie lange bleiben die Ärztinnen und Ärzte?
Die Rettungskette bleibt bis zu zehn Tage. Sie ist bereits in die Schweiz zurückgekehrt. Das Team des Mutter-Kind-Moduls bleibt aber bis zu vier Wochen. Dafür sind insgesamt 14 Personen im Einsatz, wobei nach zwei Wochen gewechselt wird. Es ist schwierig, länger zu bleiben, da der Druck und der Stress so gross sind.
Dr. med. Olivier Hagon
Leiter der Fachgruppe «Medizin» des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SKH), stellvertretender Arzt für Humanitäre Medizin im Team für Tropen- und humanitäre Medizin, Universitätsspital Genf (HUG)
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