Gemeinsam unterwegs: Krankheit betrifft uns alle

Aktuell
Ausgabe
2023/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21570
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(09):26-27

Affiliations
Dr. med., Delegierter der FMH und Vizepräsident «Tag der Kranken»

Publiziert am 01.03.2023

Tag der Kranken Am kommenden Sonntag, 5. März, setzt der Tag der Kranken ein Zeichen für kranke und beeinträchtigte Menschen. Dieses Jahr steht der Anlass unter dem Motto «Gemeinsam unterwegs». Ein ebenso stimmiges wie verpflichtendes Bild für Betroffene und alle, die sie auf ihrem Weg begleiten, schreibt Hans Kurt.
Das Leben mit einer Krankheit oder Behinderung bezeichnen Betroffene und Angehörige oft als vielschichtige emotionale Reise. Diese Metapher gibt dem Tag der Kranken 2023 sein Motto «Gemeinsam unterwegs» und umschreibt treffend das Zusammenwirken von Krankheit, Therapie, Pflege und Betreuung. Nicht von ungefähr sprechen wir Ärztinnen und Ärzte von Behandlungspfaden, therapeutischen Sackgassen, von Weichen stellen und Erholungsreisen. Wer reist, muss die Route seinen Bedürfnissen und seiner Lebenssituation anpassen; Weggefährtinnen und Reiseleitung können je nach Reiseziel ändern, wie bei wichtigen Übergängen im Leben, dem Erwachsenwerden, der Familiengründung, einem Stellenwechsel oder dem Eintritt ins Pensioniertendasein. In der Beziehung zum Patienten sind Ärztinnen und Ärzte Reisebegleiter, Expertinnen und Dolmetschende zwischen Betroffenen, Angehörigen und weiteren Gesundheitsfachleuten. Wobei die beiden letzteren genauso wichtige Mitreisende für die Patientinnnen und Patienten sind: Tragen doch auch sie essenziell dazu bei, Gesundheitsziele und den Weg dahin gemeinsam zu klären und zu beschreiten.

Die Expertise der Kranken

Der Tag der Kranken macht mit dem gleichnamigen Verein auf das unverzichtbare Miteinander von Kranken und ihren privaten und professionellen Begleiterinnen und Begleitern aufmerksam. Seine Mitglieder sind Patientenorganisationen, Kirchen, Gesundheitsligen, Versicherungen, Spitäler, die Zahnärzteschaft, die Pflege, und selbst die Rega.
Das Leben mit einer Krankheit gleicht einem langen Weg.
© Vklybemoon / Dreamstime
Nicht überraschend wird für all diese Institutionen – wie für das ganze Gesundheitswesen – in den letzten Jahren ein Thema immer wichtiger: Die interprofessionelle Zusammenarbeit. Das Förderprogramm des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) umfasst Forschungsprojekte, Modelle guter Praxis, Publikationen, Tools zur Erfassung der Interprofessionalität, Policy Briefs und Veranstaltungen. Auch andere Organisationen und Experten propagieren die Interprofessionalität, streichen die Bedeutung von Gesundheitsnetzwerken hervor, betonen die Zusammenarbeit über die einzelnen Berufe hinaus. Das Zusammenwirken zwischen verschiedenen Gesundheitsberufen aber wird nur dann erfolgreich sein, wenn die Akteure gut vernetzt sind und sich mit Respekt begegnen. Mit Recht fordert Bernadette Häfliger Berger, Leiterin Abteilung Gesundheitsberufe im BAG, dass der Fokus der interprofessionellen Zusammenarbeit immer die Sichtweise der Patienten sein muss. Es geht also nicht nur darum, dass Gesundheitsfachpersonen gut miteinander funktionieren; die Bedürfnisse, Anliegen und Sorgen des kranken Menschen müssen dabei gleichermassen erkannt und respektiert werden. Denn schliesslich sind sie die Expertinnen und Experten für die eigene Geschichte. Gemeinsam unterwegs sein heisst also, dass auch wir Ärztinnen das Schritttempo unserer Patienten übernehmen sollen. Wir müssen gemeinsam überlegen, wie Gesundung oder eine bessere Lebensqualität möglich werden kann, wen es dazu braucht und wie die Reisebedingungen auf dem Weg zu diesem Ziel aussehen. Die immer stärkere Professionalisierung und Spezialisierung im Gesundheitswesen erschweren jedoch ein solches Zusammengehen auf Augenhöhe, weshalb der Austausch zwischen allen Beteiligten notwendiger ist denn je.

Gemeinsam Suchen bringt voran

Als Psychiater bin ich über viele Jahre Menschen begegnet, Patienten, Angehörigen Gesundheitsfachleuten, Richterinnen und selbsternannten Heilern. Mein Berufsweg geht zu Ende, es war eine die lange Reise zu unbekannten Orten, in Begleitung von Menschen, denen oft viele Steine in den Weg gelegt worden waren. Das gemeinsame Erkunden einer Krankheit oder eines Leidens hat geholfen, Ziele zu bestimmen, eine Erklärung für das Bedrohliche, für Ängste und Sorgen zu finden.
Es waren nicht die Reiseanleitungen – Therapiemethoden welcher Art auch immer – sondern das gemeinsame Suchen und Unterwegssein, das zu Veränderungen führte. Dies hat immer auch bedeutet, die Sorgen und Leiden der Angehörigen ernst zu nehmen und dank der Zusammenarbeit mit ihnen und mit anderen Fachleuten Lösungen zu finden. Während ich als junger Assistenzarzt noch meinte, mit dieser oder jener Technik, mit diesem oder jenem Medikament Heilung erzwingen zu können, bin ich über all die Jahre bescheidener geworden. Ich habe gelernt, dass der Patient meist mehr Erfahrung mit seiner Krankheit hat als ich. Es ist mir bewusst geworden, dass Heilung nur möglich wird, wenn ich mich mit dem Blickwinkel des Betroffenen auseinandersetze. Selbst dann, wenn auch mal Ärger oder Ungeduld in mir aufsteigt. Aber was für Welten konnte ich dadurch kennen lernen! Nicht nur Abgründe und Wüsten, sondern Gärten mit seltenen Pflanzen, geheimnisvolle Gegenden, reiches Wissen … Diesen Abenteuerfahrten ins Ungewisse schufen berührende gemeinsame Momente der Freude und des Gelingens.

Chancen wahrnehmen

Wir Ärztinnen und Ärzte stellen Diagnosen, setzen modernste Behandlungsmethoden ein, wir versuchen unseren Patienten zu helfen und ihnen trotz Krankheit die Freude am Leben aufrecht zu erhalten. Wozu wir jedoch weder ausgebildet sind noch Übung darin haben, ist, gemeinsam mit Patienten und Angehörigen über das Sterben und den Tod zu sprechen. Eigentlich aber ist es eine bereichernde und notwendige ärztliche Aufgabe, auch auf dem letzten Stück eines Lebensweges gemeinsam unterwegs zu sein. Deshalb passen zum Tag der Kranken auch einige Momente der Ruhe und des Nachdenkens über den letzten Wegabschnitt. Gespräche über den Tod sind zudem eine gute Mahnung für uns Ärztinnen und Ärzte selber, die von der täglichen Arbeit oft verleitet werden, einzelgängerisch durch Spitäler und Praxen zu rennen und womöglich irgendwann einsam an einem Herzinfarkt zu kollabieren. Der Austausch über den Tod kann uns daran erinnnern, die Beziehung zu jenen Menschen, mit denen wir gemeinsam unterwegs sind, zu pflegen: Den Patienten mit Aufmerksamkeit zu begegnen, unbeschwerte Zeit mit der Familie zu verbringen, dem Ehemann oder der Partnerin für den Rückhalt zu danken, den Tanzkurs zu besuchen, die Jassrunde nicht ausfallen zu lassen, der MPA nach einem harten Arbeitstag eine kleine Überraschung zu verehren … Gemeinsam unterwegs zu sein bietet uns – ob krank oder gesund, im Beruf wie im Privatleben und auch als Gesellschaft – viele Gelegenheiten, positive Veränderungen herbeizuführen. Nutzen wir sie.

Tag der Kranken

Der gemeinnützige Verein «Tag der Kranken» wurde 1939 gegründet. Er besteht aus verschiedenen Mitgliedern, so auch der FMH, die im Vorstand des Vereins das Vizepräsidium einnimmt. Der Tag der Kranken findet jeweils am ersten Sonntag im März statt und will für die Bedürfnisse von kranken Menschen, die sie betreuenden Angehörigen und Gesundheitsfachpersonen sensibilisieren. Weitere Informationen: www.tagderkranken.ch.
kurt[at]solnet.ch
1 Tarn DM, Heritage J, Paterniti DA, Hays RD, Kravitz RL, Wenger NS. Physician Communication When Prescribing New Medications. Arch Intern Med. 2006;166(17):1855–1862. doi:10.1001/archinte.166.17.1855
2 BGE 148 IV 39 Erw. 2.4.1.; Art. 26 Abs. 2 HMG; vgl. Art. 2 f. der Standesordnung der FMH.