Das krumme Holz lässt sich nicht digitalisieren

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21586
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(11):74

Publiziert am 15.03.2023

Es hat mich schon etwas erstaunt. Beim Herumsurfen zum Thema Digitalisierung und Digitalisierungsstrategie bin ich auf einiges gestossen, das irgendwie nicht so richtig zum Fliegen kommt. Zum Beispiel, dass im Digital-Health-Index-Ranking der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2018 die Schweiz beim Digitalisierungsgrad auf Platz 14 von 17 liegt. Oder dass die «Strategie eHealth Schweiz 2.0 (2018–2022)» auf 2024 verlängert werden musste, weil die übergeordneten Ziele noch lange nicht erreicht sind.
Christina Aus der Au
Prof. Dr. theol., Mitglied der Redaktion Ethik
Das steht in Spannung zu den grossen Hoffnungen, die auf die Digitalisierung gesetzt werden! In einer Medienmitteilung der CSS und der EPFL zur Prämierung von Start-ups im Bereich digitale Gesundheit heisst es: «Die digitale Gesundheit eröffnet vielversprechende Perspektiven für die Gesundheit der Zukunft: kürzere Fristen, präzisere Diagnosen, Betreuung in Echtzeit, Personalisierung der Medizin, Kostendämpfung.» [1]
Als ich die Medienmitteilung ausgedruckt hatte – ganz analog –, um sie nochmals durchzulesen, bin ich doch ins Sinnieren gekommen. Was macht diese Sprache mit unserem Denken? Sieben Start-ups waren aus knapp hundert Bewerbungen zur Förderung ausgewählt worden. Dazu gehören unter anderem eine App, mit der erektile Dysfunktionen überwunden werden können, und eine App, die hilft, den Lebensstil zu ändern und besser zu altern. Endgültig irritiert war ich dann bei der App, die eine verbesserte Patienten-Arzt-Kommunikation für bessere Betreuung leisten soll.
Was stecken hier für Vorstellungen von Gesundheit dahinter? Ursprünglich hiess «digital», dass etwas in diskrete Werte quantifiziert wird, also nicht kontinuierlich wie bei analog, sondern schrittweise von einem Definierten zum anderen Definierten hüpfend. So bewegt sich bei einer analogen Uhr der Zeiger kontinuierlich. Die Uhr schlägt um, wenn eine Minute vorbei ist, erst ist es 20:21, dann 20:22. Und so basiert eine digitale Technologie auf den diskreten Werten 1 und 0, entweder an oder aus, anwesend oder abwesend, messbar oder nicht messbar, dazwischen gibt es nichts.
Was bedeutet das, wenn man es auf die Gesundheit anwendet? Sie ist da – oder nicht. Es funktioniert, oder es funktioniert nicht, die Zahlen stimmen, oder sie stimmen nicht.
Will ich über ein Tool mit meiner Hausärztin kommunizieren, welches meine Anamnese quantifiziert? Will ich meine erektile Dysfunktion mithilfe einer App überwinden, welche die Fähigkeit zum Orgasmus beziffert? Hilft mir eine App, die bestimmte Aspekte meines Lebensstils und meines Alterungsprozesses bewertet?
Es geht nicht darum, die Digitalisierung zu verteufeln! Natürlich ist künstliche Intelligenz präzise bei der Diagnostik – das ist genau ihre Funktion! Dort, wo es darum geht, zu messen und zu identifizieren, nur zu! Und dann? Der Mensch besteht nicht nur aus diskreten Werten. Er ist aus krummem Holze gemacht, woraus nichts Gerades gezimmert werden kann, wie Immanuel Kant in seiner «Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht» schreibt. Und dieses krumme Holz lässt sich nun mal nur annäherungsweise in das Prokrustesbett des Digitalen zwingen. Und so lassen sich Gespräch und Beziehung, Begleiten und Vertrauen wohl nicht digital auflösen. Diese aber sind grundlegend für menschliche Gesundheit. Von «digitaler Gesundheit» zu sprechen, verleitet dazu, das krumme, aber lebendige Holz des Menschseins zu vergessen. Bleiben wir doch bei den digitalen Technologien und belassen wir die Gesundheit analog.