Trisomie 21 ist keine Kinderkrankheit mehr

Interview
Ausgabe
2023/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21598
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(11):14-17

Publiziert am 15.03.2023

Welt-Down-Syndrom-Tag Mark Brotzmann gratuliert Eltern zur Geburt eines Kindes mit Trisomie 21. In Basel leitet er die schweizweit erste Down-Syndrom-Sprechstunde. Im Interview erklärt er, welche Begleiterkrankungen typisch für das Syndrom sind und was sich ändern muss, damit Ärztinnen und Ärzte die Betroffenen besser behandeln können.
Mark Brotzmann, Sie leiten die Trisomie-21-Sprechstunde am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB). Wie nehmen die Eltern die Diagnose in der Regel auf?
Am Anfang ist es oftmals ein Schock. Da zerplatzen Lebenserwartungen wie Seifenblasen und man muss sich ein ganz neues Lebenskonzept entwickeln, und das auch annehmen. Daran scheitern Eltern immer wieder.
Dr. med. Mark Brotzmann ist Leitender Arzt in der Abteilung für Neuropädiatrie und Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB). Seit 2019 leitet er dort die schweizweit erste und einzige Sprechstunde für Kinder mit Trisomie 21 und ihre Eltern.
© David Sigg
Werden weniger Kinder mit Trisomie 21 geboren, seit der nichtinvasive Pränataltest (NIPT-Test) eingeführt wurde?
Nein. Es gibt eine Häufigkeit von 1:800 Geburten. Für die Schweiz heisst das, dass zirka 100 Kinder mit Trisomie 21 pro Jahr geboren werden. Diese Geburtenrate ist konstant geblieben. Man erklärt sich das damit, dass der Anteil der Eltern, die gar keine Diagnostik machen oder sich trotz Diagnostik für das Kind entscheiden, gleichgeblieben ist.
Wie können Ärzte und Ärztinnen gerade am Anfang helfen?
Wir Mediziner müssen wegkommen von dem Gedanken, dass etwas pathologisch ist und mehr von Besonderheiten und Variabilitäten sprechen. Gerade in der Gesprächsführung mit betroffenen Eltern ist das wichtig. Wir sehen ja hier in Basel die Kinder oft schon im Wochenbett und versuchen den ersten Kontakt zu den Familien herzustellen. Da sagen wir nicht: «Tut mir leid, dass Ihr Kind Trisomie 21 hat», sondern wir sagen: «Herzlichen Glückwunsch zur Geburt Ihres Kindes».
Dann laden Sie in die Trisomie 21-Sprechstunde ein. Was passiert dort?
Mein Eröffnungssatz ist immer: «Ich möchte, dass Ihre Fragen beantwortet werden, nicht meine.» Wir schauen, was es braucht, damit durch Früherkennung syndromspezifische Erkrankungen vermieden oder rechtzeitig erkannt werden. Wir machen eine Bestandsaufnahme darüber, welche empfohlenen Massnahmen bereits durchgeführt wurden und an welcher Stelle noch etwas verbessert werden kann. Oft bringe ich problemorientiert die Spezialisten gleich mit, den Kinderorthopäden, die Ernährungsberatung, den Logopäden, den Gastroenterologen und so weiter.
Müssen die Kinder jährlich zu Ihnen ins UKBB nach Basel kommen?
Nein. Wir geben nur den Input. Wir wollen die Grundversorgung sicherstellen. Vernetzung und Ausführung liegen bei den niedergelassenen Kinderärzten vor Ort, die ja auch die Spezialisten vor Ort kennen. Ohne diese Ärztinnen und Ärzte könnten wir die Sprechstunde gar nicht anbieten.

Weitere Informationen

Eine Trisomie-21-Sprechstunde in Winterthur befindet sich im Aufbau.
Verein für betroffene Familien in der deutschsprachigen Schweiz mit Linksammlung: www.insieme21.ch
Verein für betroffene Familien in der Romandie:
Verein für Menschen mit Handicap: www.procap.ch
Fachorganisation für Menschen mit Behinderungen: www.proinfirmis.ch
Und die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte profitieren von Ihrer Expertise.
Ja. Die niedergelassenen Kollegen sehen in ihrem Berufsleben vielleicht vier oder fünf Kinder mit Trisomie 21, wir betreuen in der Zwischenzeit gegen 100 Patienten. Oft fragen uns die Eltern, wie sich ihr Kind im Vergleich zu anderen Trisomie-Kindern entwickelt, ob es normal ist, dass ihr Kind mit drei Jahren noch nicht redet oder mit zwei Jahren noch nicht läuft. Das kann man nur mit einer gewissen Erfahrung einschätzen.
Mark Brotzmann erarbeitet ein Vorsorgeheft für Kinder mit Trisomie 21.
© David Sigg
Was müssen niedergelassene Kinderärztinnen und -ärzte über Kinder mit Trisomie 21 wissen?
Diese Kinder brauchen mehr Vorsorgeuntersuchungen. Ausserdem sind regelmässige Kontrollen notwendig, damit therapeutische Massnahmen eingeleitet werden können. Das können Therapien auf medizinischer Ebene oder zur Förderung der kognitiven Entwicklung, der Sprachentwicklung oder der Motorik sein. Manchmal braucht es auch einfach das Bewusstsein, dass es diese Therapien gibt und dass sie früh genug eingeleitet werden müssen.
Gibt es spezielle Vorsorgehefte, an denen sich Pädiaterinnen und Pädiater orientieren können?
In der Schweiz bislang noch nicht. Deshalb geben wir ein entsprechendes Heft aus Deutschland ab. Der Kinderkardiologe Dr. med. Sven Hormann vom Kantonsspital Winterthur und ich sind aber gerade dabei, ein Heft für die Schweiz zu erarbeiten, das in allen Landessprachen erscheinen soll. Wir rechnen damit, dass es Mitte oder Ende nächsten Jahres erscheint.
Das UKBB ist als Zentrum an einer Studie zur Verbesserung der kognitiven Leistung von Menschen mit Trisomie 21 beteiligt. Worum geht es da?
Die Studie steht unter der Federführung der Kollegen des Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV. Dabei wird geschaut, welchen Einfluss das Hormon GnRH auf die kognitive Entwicklung von Patienten mit Trisomie 21 hat. In Studien mit Mäusen hat man gesehen, dass das Hormon einen positiven Einfluss hat. Eine Pilotstudie mit sieben Patienten hat gezeigt, dass dieses Hormon helfen kann. Jetzt geht es in einer randomisierten, doppelt verblindeten, Placebo-kontrollierten Studie darum zu überprüfen, ob das tatsächlich so ist [1].
Aufgrund medizinischer Interventionen steigt die Lebenserwartung von Menschen mit Trisomie 21. Wie alt können sie werden?
Wir haben jetzt eine mittlere Lebenserwartung von ungefähr 65 Jahren. Als früher die Herzchirurgie noch nicht so weit war, lag diese Lebenserwartung bei unter 20 Jahren. So kommen jetzt auch die Komorbiditäten immer mehr zum Vorschein, die wir vorher noch gar nicht abschätzen konnten.
Welche Begleiterkrankungen sind das?
Die allgemeinen Komorbiditäten sind zum Beispiel Hörstörungen, ophthalmologische Erkrankungen, kongenitale Herzfehler. Fast 100% der Menschen mit Trisomie 21 sind beim Orthopäden. Mit der höheren Lebenserwartung haben wir Diagnosen neu kennengelernt: Alzheimerdemenz, Late Onset Myoclonic Epilepsy in Down Syndrome, Osteoporose, Schilddrüsenfunktionsstörungen bei bis zu 50% der Erwachsenen, psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen und metabolische Erkrankungen wie Diabetes und Adipositas.
Welche Versorgungsstrukturen für Menschen mit Trisomie 21, die keine Kinder mehr sind, gibt es in der Schweiz?
Viele Patientinnen und Patienten werden in Memory-Kliniken oder Reha-Kliniken gesehen, weil sie oft schon in der dritten oder vierten Lebensdekade eine Alzheimerdemenz entwickeln. Eine auf das Down-Syndrom spezialisierte Klinik oder ein Zentrum spezifiziert für Personen im Erwachsenenalter gibt es in der Schweiz nicht, soweit ich weiss. Von daher ist unsere Versorgungsstruktur in der Schweiz für Trisomie-21-Patienten gerade im höheren Alter mangelhaft.
Woran liegt das?
Das Bewusstsein, dass Trisomie 21 nicht nur eine Kinderkrankheit ist, ist noch gar nicht vorhanden. Deshalb braucht es Ambulanzen oder Zentren, die für die Besonderheiten in der Versorgung der Patientinnen und Patienten und auch auf den Umgang mit ihnen spezialisiert sind und die das Krankheitsbild und die Komorbiditäten als Gesamtbild sehen und nicht als einzelne Entitäten.
Was müssen Ärztinnen und Ärzte wissen, die Menschen mit Trisomie 21 behandeln?
Wichtig ist das Wissen um die Komorbiditäten. Ausserdem ist es viel Sozialmedizin: Welchen Herausforderungen ist der Patient im Alltag ausgesetzt, wie wird er beschult, welche Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten gibt es, welche Finanzierungsmöglichkeiten für Therapien, allenfalls welche institutionellen Unterbringungsmöglichkeiten gibt es, wo kann sich die Familie Hilfe holen und so weiter. Zudem ist man als Mediziner angehalten gegenüber der IV Zeugnis abzulegen, da die Trisomie ein Geburtsgebrechen ist und die Betroffenen Anspruch auf Kostenübernahme für medizinische Massnahmen der IV und Hilflosenentschädigung haben.
Ärztinnen und Ärzte müssen aber auch die pflegenden Angehörigen, meist die Eltern, im Blick behalten.
Ja. Trisomie-21-Patienten werden oftmals als sehr fröhlich und sehr extrovertiert wahrgenommen. Aber so sind leider nicht alle. Es gibt auch Patientinnen und Patienten, die Probleme mit der Regulation ihrer Emotionen haben, die sehr verhaltensauffällig sind, die Wut- und Tobsuchtsanfälle haben. Da ist es sehr schwierig für die Angehörigen, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, weil dort dafür die Akzeptanz fehlt. Diese Eltern leben oft sehr isoliert und allein. Da muss ein Arzt auch mal fragen, was man machen kann, damit die Eltern Zeit zum Durchatmen haben.
Welche Rolle sollen die Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte spielen?
Es braucht einen Case-Manager vor Ort, einen Arzt, der fallführend ist, der die Familie und ihre Bedürfnisse kennt. Das sind die Keyplayer und die müssen gestärkt werden.
Wie müsste diese Stärkung aussehen?
Nichtinstrumentelle und nichtinvasive Massnahmen müssen finanziell viel besser abgegolten werden. Wenn es um Sozialmedizin geht – und das erlebe ich bei der Arbeit in meiner Praxis und im Spital – wird das nicht gut abgegolten.
Was muss sich noch verbessern?
Meiner Meinung nach sind wir von guten Integrationsstrukturen für Menschen, die anders sind, und von ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz noch weit entfernt. Wir müssen uns fragen, wie sie ein Teil der Gesellschaft sein können. Wir könnten fragen, wie wir das kreative Potenzial dieser Kinder mehr in die Kunst einfliessen lassen können, um nur ein Beispiel zu nennen. Es ist ja nicht nur ein Problem, dass eine Person nicht den Normerwartungen entspricht, es ist ja auch eine Bereicherung.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Der Vorteil von Trisomie 21 ist, dass es so viele Betroffene gibt. Es gibt viele Eltern, die sich zusammenschliessen und die einiges bewegen können. Sie haben es geschafft, dass die Trisomie als Geburtsgebrechen anerkannt wurde und so ist ja auch unsere Sprechstunde in Basel entstanden: Betroffene sind zu uns gekommen und meinten, dass die Schweiz so etwas braucht.

Welche Formen der Trisomie es gibt

Die freie Trisomie 21 ist die häufigste Form und macht ungefähr 95% der Fälle aus. Die Translokations-Trisomie kommt laut Mark Brotzmann in zirka 2 bis 3% der Fälle vor. Es gibt auch die Mosaik-Trisomie. Sie tritt in ungefähr 1 bis 2% der Fälle auf. Mark Brotzmann betrachtet sie eher als ein separates Krankheitsbild. Bei der Mosaik-Trisomie ist der dreifache Chromosomensatz nicht in jedem Körpergewebe vorhanden, sondern es besteht ein sogenanntes Mosaik im Körper. Das heisst, es gibt Körperkompartimente, zum Beispiel das Gehirn, die Muskeln oder die Knochen, in denen ein normaler Chromosomensatz vorhanden ist und es gibt Kompartimente, in denen der Chromosomensatz in dreifacher Ausführung vorhanden ist. Das führt dazu, dass die Kinder viel seltener die phänotypischen Stigmata aufweisen und sich laut Brotzmann oft viel besser entwickeln. So kann es zu einer verzögerten Diagnostik kommen und man bemerke dies erst, wenn Kinder zum Beispiel durch Entwicklungsverzögerungen der Sprache, der Motorik oder spezifische somatische Erkrankungen auffallen, wie etwa durch einen einen syndromspezifischen Herzfehler.

Welt-Down-Syndrom-Tag

Jedes Jahr am 21. März findet der Welt-Down-Syndrom-Tag statt. Ziel ist, mit Veranstaltungen auf das Thema hinzuweisen und das öffentliche Bewusstsein dafür zu steigern. Weitere Informationen unter www.worlddownsyndromeday.org
1 Hormone verbessern kognitive Leistung von Menschen mit Trisomie 21 (apa.at): science.apa.at/power-search/15934232367678604407