Forschung

Sie schlagen, beissen, spucken und würgen

Hintergrund
Ausgabe
2023/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21602
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(13):10-13

Publiziert am 29.03.2023

Gewalt Ärztinnen und Ärzte wollen helfen, werden aber immer wieder angeschrien und bedroht: Viele haben bereits gewaltbereite Patientinnen, Patienten oder Angehörige erlebt. Wie sich medizinisches Personal schützen und auf diese Situationen vorbereiten kann.
Katrin Zehnder* war als Assistenzärztin in einem Regionalspital tätig, als es passierte. Völlig unerwartet und blitzschnell. Plötzlich stand der verwirrte Patient im Nachthemd vor ihr und richtete drohend eine Schere auf sie. Man solle ihn in Ruhe lassen, schrie er. Katrin Zehnder schrie auch und in kürzester Zeit waren Pflegende da, die den Patienten überwältigten. Kurz danach waren auch der hauseigene Sicherheitsdienst und der psychiatrische Dienst zugegen. Teamkollegen und Vorgesetzte kümmerten sich um Katrin Zehnder, wiesen sie auch auf die Möglichkeit psychologischer Unterstützung hin.
Gewalt abwehren: Medizinische Einrichtungen brauchen ein Konzept, wie sie Drohungen und Aggressionen präventiv verhindern können.
© Saif71.com / Unsplash
In den Tagen danach habe sie sich «komisch» gefühlt, musste manchmal weinen und schlief schlecht. Sie hatte aber nicht das Bedürfnis nach weiterer Unterstützung. Nach einer Woche konnte sie den Vorfall gut hinter sich lassen: «Ich war danach nicht ängstlicher bei der Arbeit.»

Wenn Eltern ausrasten

Wer in die Medien blickt, denkt unweigerlich: Drohungen und Gewalt gegen Gesundheitsfachpersonen nehmen zu. Im Januar gab das Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) bekannt, zukünftig im Notfall einen Sicherheitsdienst zu engagieren. Dies, nachdem die Notfallstation seit Wochen überlastet war und Eltern vermehrt das Personal bedroht hatten, wie in den Medien [1] zu lesen war. Insbesondere bei langen Wartezeiten lägen die Nerven der Eltern oft blank. Deshalb komme nun in den Abendstunden und am Wochenende Security zum Einsatz.
Damit ist das UKBB kein Einzelfall. Sicherheitsdienste insbesondere auf der Notfallstation gehören an vielen Spitälern längst zum Standard. So auch am Universitätsspital Genf. Es hatte 2016 seinen Einsatz gegen Aggressionen verstärkt. Dies, nachdem es in den Jahren zuvor zu einer steigenden Zahl von Vorfällen gekommen war – 32 waren es beispielsweise im Jahr 2015. Dabei unterscheidet das Spital vier Schwerestufen: von Vorfällen, die das medizinische Personal selber bewältigen kann, über solche, welche die reine Präsenz des Sicherheitsdienstes erfordern, bis zum notwendigen verbalen oder körperlichen Eingreifen des Sicherheitspersonals. Mehr als 60% der Vorfälle betrafen damals die höchste Stufe.
Zu den Massnahmen [2] von 2016 gehörten am Universitätsspital Genf unter anderem E-Learning-Schulungen zu Gewalt und Deeskalation sowie die systematische Betreuung der Betroffenen von Gewaltvorfällen – was sowohl psychologische wie allfällige juristische Unterstützung gegen Gewalttäter umfasst. Im Sinne der Prävention wurde zudem eine Kampagne gestartet, die sich an Patientinnen und Patienten sowie Besuchende richtete. Die Kernbotschaft auf den Plakaten im Spital lautete: «Sie sind nicht hier, um schlecht behandelt zu werden. Wir auch nicht.»
Seither ist die Zahl der Vorfälle allerdings nicht gesunken, sondern weiter gestiegen. 2020 gab es 166 und 2022 sogar 219 Vorfälle. Gemäss Universitätsspital Genf ist das zumindest teilweise auf die Sensibilisierung durch die Massnahmen zurückzuführen – indem Mitarbeitende Vorfälle konsequenter melden.

Gesundheitsbranche stark betroffen

Dennoch ist Sabine Hahn überzeugt, dass das Ausmass der Gewalt gegen Gesundheitsfachpersonen in den vergangenen Jahren nicht zugenommen hat. Die Professorin für Pflegeforschung an der Berner Fachhochschule widmet sich schwerpunktmässig Drohungen und Gewalt im Gesundheitswesen [3]. Aktuelle gesamtschweizerische Zahlen fehlten zwar, sagt sie, aber international zeigten sich in den vergangenen Jahren keine zunehmenden Zahlen. Dass einzelne Institutionen steigende Zahlen melden, erachtet sie als Folge der zunehmenden Sensibilisierung. «Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gesundheitsfachpersonen schon seit Jahrzehnten nach Mitarbeitenden von Polizei und Sicherheitsdiensten die am stärksten von Gewalt betroffene Berufsgruppe sind», so Hahn.
Langfristig habe sich durchaus etwas verändert: Früher seien Ärztinnen und Ärzte Respektspersonen gewesen, denen man mit Anstand begegnete. Heute würden gewisse Menschen auch solchen «Autoritäten» gegenüber schneller «frech oder aggressiv». Gleichzeitig ist gemäss Hahn seitens der Gesundheitsfachpersonen die Toleranz gegenüber Ausfälligkeiten gesunken. Man lässt sich weniger gefallen. Deshalb die vermehrte Meldung von Fällen.

85 Prozent haben es schon erlebt

In ihrer eigenen Studie [4] hatte Sabine Hahn 2012 rund 2500 Mitarbeitende in Universitätsspitälern der Schweiz befragt. Dabei zeigte sich: Rund 85% der Befragten hatten in ihrem Arbeitsleben bereits Gewalt erlebt – rund die Hälfte der Befragten in den vergangenen zwölf Monaten. Als Aggression und Gewalt definiert die Forscherin dabei jedes bedrohende verbale oder körperliche Verhalten gegenüber Personen – oder die Institution im Falle von Sachbeschädigungen. Das kann von Beschimpfungen und obszönen Bemerkungen bis zu Schlagen, Beissen, Spucken, Würgen und dem Einsatz von Waffen reichen.

Bis zum Berufswechsel

In den meisten Fällen gingen die in der Studie erhobenen Aggressionen von Patienten aus, seltener von Angehörigen. Die häufigste Form betraf in der Studie verbale Gewalt – bei jeder sechsten Person handelte es sich aber um körperliche Gewalt. Am stärksten betroffen waren die Notfallmedizin sowie Aufwach- und Intensivstationen – Letztere insbesondere wegen Delirzuständen von Patientinnen und Patienten. Von den Mitarbeitenden im Notfall gaben 74% an, im vergangenen Jahr Gewalt erlebt zu haben. Auffallend war: Pflegende waren etwas häufiger betroffen als Ärztinnen und Ärzte, Frauen etwas häufiger als Männer und jüngere deutlich häufiger als ältere Mitarbeitende.
Die Folgen aggressiver Vorfälle sind gemäss Sabine Hahn vielfältig: weniger Sicherheit für Patienten und Personal, eine geringere Versorgungsqualität – wenn beispielsweise aggressive Patientinnen und Patienten gemieden werden – und Kosten etwa für Krankheitsausfälle. «Zudem können Gewalterlebnisse in gravierenden Fällen zu Angst am Arbeitsplatz und posttraumatischen Störungen führen. Manchmal wechseln Betroffene den Arbeitsplatz oder sogar den Beruf», sagt Hahn.

Klare Haltung nötig

Was hilft gegen Drohungen und Gewalt im Gesundheitswesen? Für Sabine Hahn ist klar: Prävention und Intervention sind gleichermassen zentral. Eine Institution – sei es ein Spital oder eine Arztpraxis – müsse erstens eine klare Haltung zum Thema haben, die auch von der obersten Führungsebene getragen werde. Es könne schon helfen, diese Haltung auf der Notfallstation gut sichtbar auf Plakaten zu kommunizieren.
Zweitens brauche eine medizinische Einrichtung ein Konzept, wie sie Drohungen und Gewalt präventiv verhindern und bei Vorfällen damit umgehen will. Dazu gehören Aspekte wie die Schulung des Personals (Kommunikation, Deeskalation), ein Meldewesen beziehungsweise Controlling von Vorfällen und psychologische Unterstützung für Betroffene. Zudem gelte es im Konzept zu klären, ob ein eigener Sicherheitsdienst sinnvoll sei und welche Kompetenzen ein solcher habe.
Ein systematisches Meldewesen sei auch für die Prävention zentral. Steige etwa in einem Spitalbereich die Gewalt auffallend an, gelte es hinzuschauen: Was können wir als Institution besser machen (siehe Interview). In der konkreten Situation sei das Motto für die Mitarbeitenden sinnvollerweise: «Freundlich, aber klar sein». Beginne ein Patient unruhig zu werden oder sich zu beklagen, gelte es, nicht darauf zu vertrauen, dass der Ärger von selber wieder verschwindet. Angesagt sind: Ansprechen, Information geben und um Verständnis bitten, etwa wenn es um lange Wartezeiten oder medizinisch nötige Massnahmen geht. Und wenn nötig Grenzen setzen.

Nie ganz auszuschliessen

Assistenzärztin Katrin Zehnder ist rückblickend vor allem froh, dass Pflegende sehr schnell vor Ort waren und ihr halfen, als sie um Hilfe rief. Sie war im Medizinstudium nicht auf mögliche Gewalt gegen Gesundheitsfachpersonen vorbereitet worden. Auch am Regionalspital hatte es keine Schulung gegeben. Sie wusste einfach, dass es einen Sicherheitsdienst gibt, den man alarmieren kann. Umso mehr befürwortet sie heute Deeskalations-Kurse für Mitarbeitende, denn: «Man kann ein solches Geschehnis nie ausschliessen.» Sie selber ist seit dem Vorfall als Assistenzärztin vor zwei Jahren nicht mehr betroffen gewesen.
* Der Name wurde auf Wunsch geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt.
Sabine Hahn, Sie sagen, Gewalt gegen Gesundheitsfachpersonen habe in den letzten Jahren nicht zugenommen (siehe Haupttext). Auch während der Coronapandemie und mit dem zunehmenden Personalnotstand nicht?
Nein. Wenn in einzelnen Spitälern höhere Zahlen ausgewiesen werden, ist das auf die vermehrte Sensibilisierung und daher zunehmende Meldung von Vorfällen zurückzuführen. Gewalt ist endlich auch im Akutspital kein Tabu mehr – so wie das in der Psychiatrie schon länger der Fall ist. Dass gerade jetzt genauer hingeschaut wird, ist kein Zufall.
Warum?
Beim heutigen Personalnotstand kann es sich keine medizinische Institution mehr leisten, Personal wegen solcher Vorfälle zu verlieren. Man muss die Klagen ernst nehmen. Die meisten Institutionen haben heute ein Bewusstsein für das Thema. Allerdings: Mit Ausnahme von Notfallstationen besteht in medizinischen Einrichtungen oft kein Konzept oder systematisches Controlling zu Drohungen und Gewalt. Wir konnten in einer Studie [5] zeigen, dass beim obersten Management das Wissen zum Thema noch eher gering ist. Das muss sich ändern. Denn es braucht auch strukturelle Massnahmen – etwa eine zuständige Person, die sich dem Thema widmet. In den USA und Grossbritannien gehört das Thema Aggression gegenüber dem Personal zu den Qualitätsindikatoren im Gesundheitswesen. Denn solche Vorfälle zeigen, dass etwas nicht stimmt und in einer medizinischen Einrichtung Handlungsbedarf besteht.
Was kann helfen?
Neben Aspekten wie der Schulung der Mitarbeitenden und allenfalls einem Sicherheitsdienst spielt auch das institutionelle Setting eine wichtige Rolle. Es gilt immer zu fragen: Können wir unsere Prozesse smarter gestalten, um etwa Wartezeiten zu verringern? Müssen wir den Personaleinsatz optimieren? Können wir dafür sorgen, dass Patienten und Angehörige sich besser orientieren können und wohlfühlen? Drohungen und Gewalt sind nie entschuldbar, aber manchmal nachvollziehbar. Denn wir haben es immer mit Menschen in Ausnahmesituationen wie Schmerz und Angst zu tun. Eine ruhige Atmosphäre, der Blick in die Natur, farbige Wände – solche Massnahmen können helfen, die Situation erträglicher zu machen. Und dazu beitragen, dass Drohungen und Gewalt seltener werden, wie Studien [6] zeigen.
Prof. Dr. Sabine Hahn
Fachbereichsleiterin Pflege an der Berner Fachhochschule