ICD-11 – Empfehlung zur Verwendung in der Psychiatrie

Aktuell
Ausgabe
2023/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21604
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(10):34-35

Affiliations
a Dr. med., Präsident Swiss Insurance Medicine (SIM); b Dr. med., Vorstandsmitglied Schweizerische Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte (SGV); c Prof. Dr. med., Präsident Schweizerische Vereinigung Psychiatrischer Chefärzte (SVPC); d Prof. Dr. med., Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Versicherungspsychiatrie (SGVP); e Dr. med., Präsidentin Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP); f Prof. Dr. med., Vorstandsmitglied Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) und Präsident Swiss Conference of Academic Psychiatry (SCAP); g em. Prof. Dr. rer. nat., Prof. für Klinische Psychologie und Psychiatrie, Universität Basel; h Dr. iur., Juristin FMH Rechtsdienst

Publiziert am 08.03.2023

Diagnostik Die ICD-11, im Januar 2022 eingeführt, löst innerhalb von fünf Jahren die ICD-10 ab. Da noch keine offizielle deutschsprachige Übersetzung vorliegt und auch die klinischen Beschreibungen sowie die diagnostischen Anforderungen ausstehen, sollten sich Psychiaterinnen und Psychiater – ausser in begründeten Ausnahmefällen – nach wie vor am bisherigen Klassifikationssystem ICD-10 orientieren.
Die ICD-11 wurde in der Nachfolge der aktuell noch weiterhin geltenden ICD-10 im Juni 2019 durch die 200 Mitgliedsländer der WHO-Generalversammlung verabschiedet. Die offizielle Einführung erfolgte im Januar 2022, mit einer Übergangszeit von fünf Jahren. Jedoch ist bis jetzt keine offizielle deutschsprachige Übersetzung beziehungsweise kein entsprechendes Manual verfügbar, sondern lediglich «eine erste Version einer deutschen Übersetzung, die auch unter Verwendung automatisierter Übersetzungsverfahren erstellt wurde» [1]. An der qualitätssichernden Arbeit waren für die Psychiatrie die DGPPN [2] und das BfArM [3] in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Bundesamt für Statistik [4] federführend. Die Bearbeitung der «Klinischen Beschreibungen und diagnostischen Anforderungen» [5], welche die eigentlichen diagnostischen Kriterien darstellen, wird erst in der Folge publiziert werden. Der auf der Homepage des BfArM aufgeführte Entwurf bezieht sich lediglich auf die MMS (Mortalitäts- und Morbiditätsstatistik) und die Beschreibungen (Descriptions) des Kapitels 6 (psychische Störungen). Dieser Entwurf liegt jedoch noch nicht in einer offiziell bearbeiteten Version vor.

Wichtigste Neuerungen

Die ICD-11 unterscheidet sich unter anderem in folgenden Punkten deutlich von der ICD-10 [6]:
Hierdurch ändert sich zum Beispiel im Einzelfall die Schwelle zur Diagnosestellung; einige Diagnosen erhalten neu Schweregradeinteilungen und/oder eine Beschreibung des psychosozialen Funktionsniveaus; in einigen Fällen werden neue Diagnosen (beispielsweise die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, die körperdysmorphe Störung, das pathologische Horten, die Binge-Eating-Störung, die anhaltende Trauerstörung) eingeführt oder Störungen anderen Bereichen zugeordnet (beispielsweise die Transsexualität als «Geschlechtsinkongruenz» in neuer Rubrik unter «Probleme/Zustände im Bereich der sexuellen Gesundheit»). Besonders auffällig sind die Veränderungen bei den Persönlichkeitsstörungen in Bezug auf ICD-10 und DSM-5 (unter anderem Aufgabe der Subtypen, Einführung einer Schweregraduierung).

Weiterhin Orientierung an ICD-10

Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Artikels legen nachfolgend dar, weshalb sie von einer Übernahme von ICD-11 zum aktuellen Zeitpunkt mit einer Ausnahme abraten, bevor nicht ein Manual mit den «Klinischen Beschreibungen und diagnostischen Anforderungen» publiziert ist.
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung in der Schweiz sind die Klassifikationssysteme grundsätzlich dazu bestimmt, «eine terminologische und inhaltliche Vereinheitlichung der Diagnosen herbeizuführen, um auf dieser Grundlage eine dem Stand der Wissenschaft entsprechende Untersuchung und Behandlung der Gesundheitsstörung zu ermöglichen» [7].
Sollen Ärztinnen und Ärzte das Klassifikationssystem ICD-10 oder ICD-11 nutzen? Die FMH schenkt Orientierung.
© Robert Ruggiero / Unsplash
Das Bundesgericht macht zur diagnostischen Verwendung von ICD-11 noch keine konkreten Vorgaben. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung muss die Diagnose aber «lege artis auf die Vorgaben eines anerkannten Klassifikationssystems abgestützt sein» [8]. Das Bundesgericht weist beispielhaft darauf hin, dass für die Einordnung chronischer Schmerzen neben den international gebräuchlichen Diagnosesystemen ICD-10 und dem Psychiatrie-spezifischen DSM-IV spezielle Verfahren zur Verfügung stehen würden [9]. Ein anerkanntes Diagnosesystem ist zu verwenden; da die Diagnose per se den Schweregrad der Leistungseinschränkung nicht definiere, spiele das dabei angewandte System aber keine Rolle [10]. Bei der ICD-11 sieht das jedoch allenfalls anders aus [11], da hier die Funktionen bei Diagnosestellung und Beurteilung des Schweregrades bei vielen Störungen eine massgebliche Bedeutung haben.
Das Klassifikationssystem ICD-10 ist seit 2018 die Basis für die Tarifstruktur in der stationären psychiatrischen Leistungserbringung [12]. Das Abrechnungssystem «TARPSY» [13] für stationäre psychiatrische Leistungen mit seinen «Psychiatric Cost Groups» (PCGs) basiert auf der ICD-10. Auch diesbezüglich braucht es im Hinblick auf die Einführung der ICD-11 die entsprechenden Anpassungen.

Diagnosemanuale in der Psychiatrie

Die Diagnosesysteme ICD-10 und DSM-5 sind seit vielen Jahren etabliert, und es liegen auf deren Grundlage auch verschiedene psychodiagnostische Instrumente vor. Es sollte weiterhin prinzipiell nach ICD-10 diagnostiziert und kodiert werden und nur in begründeten Fällen nach DSM-5; es sollte also kein «willkürlicher Wechsel» zwischen diesen beiden Diagnosesystemen vorgenommen werden [14]. Sinnvoll ist die diagnostische Einordnung nach DSM-5 beispielsweise dann, wenn dort etablierte psychodiagnostische Instrumente zur Verfügung stehen (beispielsweise bei Persönlichkeitsstörungen, Posttraumatischer Belastungsstörung [PTBS] und so weiter) oder das DSM-5 dem aktuellen Forschungsstand besser entspricht als die ICD-10 (beispielsweise Somatoforme Störung versus Somatische Belastungsstörung, Autismus/Asperger versus Autismus-Spektrum-Störung, PTBS und so weiter). Im Rahmen einer Begutachtung sollte dies aus Gründen der Transparenz im Einzelfall auch klar so vermerkt werden.

Ausnahme «Komplexe PTBS»

Auf die Kodierung nach ICD-11 sollte – ausser in begründeten Ausnahmefällen – generell verzichtet werden bis die offizielle Übersetzung auf Deutsch sowie das Manual «Klinische Beschreibungen und diagnostische Anforderungen» in deutscher Sprache vorliegen. «Warnhinweise» finden sich zudem bei allen auf der Homepage verfügbaren Leitlinien [15] in der Form «Unapproved pre-publication version, not for citation and distributions». Als einzige Ausnahme für die Psychiatrie macht aus Sicht der Autorinnen und Autoren die Diagnosestellung und Kodierung der «Komplexen PTBS» (kPTBS) nach ICD-11 in Einklang mit der Empfehlung der AWMF-Leitlinien zur psychiatrischen und psychosomatischen Begutachtung Sinn [16], da
Bei allen anderen psychischen Störungen raten die Autorinnen und Autoren vorerst davon ab, die ICD-11 zur Diagnostik und Kodierung zu verwenden; sie befürchten, dass es bei einer unkritischen, zu frühen Anwendung von ICD-11 in Diagnostik, Behandlung und Begutachtung zu einer «Sprachverwirrung», das heisst zu nomenklatorischen Missverständnissen kommt, und dass in der Folge aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit eine Rechtsunsicherheit droht. Eine längerfristige Umstellung auf ICD-11 wird auch eine entsprechende Anpassung der Tarifstruktur für den stationären Psychiatriebereich «TARPSY» erfordern. Auch SwissDRG, das Vergütungssystem für die stationäre Akutsomatik, wird entsprechend umgestellt werden müssen, was einen hohen administrativen Aufwand verursachen dürfte. Dies gilt aus Sicht der Autorinnen und Autoren auch für eine bereits auf Französisch vorliegende Version der WHO [17].
1 Erarbeitet vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM.
2 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde DGPPN
3 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Deutschland)
4 Bundesamt für Statistik (Schweiz)
5 Clinical Descriptions and Diagnostic Requirements CDDR Klinische Beschreibungen und diagnostische Anforderungen
6 Vgl. z. B. First, M.B., Gaebel, W., Maj, M. et al. (2021). An organization- and category-level comparison of diagnostic requirements for mental disorders in ICD-11 and DSM-5. World Psychiatry, 20, 34-51.
Reed, G.M., First, M.B., Kogan, C.S. et al. (2019). Innovations and changes in the ICD-11 classification of mental, behavioural and neurodevelopmental disorders. World Psychiatry, 18, 3-19.
Stein, D.J., Szatmari, P., Gaebel, W. et al. (2020). Mental, behavioural, and neurodevelopmental disorders in ICD-11: and international perspective on key changes and controversies. BMC Medicine, 18:21
7 BGE 130 V 396 E. 6.2.2.
8 BGE 130 V 396 Regeste.
9 BGE 130 V 396 E. 6.3., damals noch mit Bezug auf DSM-IV, DSM-5 lag noch nicht vor.
10 BGE 145 V 215 E. 5.3.2; BGE 143 V 105 E. 2.5.1; BGE 130 V 396: «Auch besteht kein Definitionsmonopol der ICD-10». E. 6.3.
11 Inwiefern für ICD-11 nach Rechtsprechung weiter gilt, dass «das dabei angewandte System aber keine Rolle» spiele, wird sich weisen. In ICD-11 wird nämlich die Einschränkung von Funktionen teilweise als Eingangsvoraussetzung für die Diagnosestellung formuliert und/oder zur Definition des jeweiligen Schweregrades von einzelnen psychischen Störungen.
13 Tarifstruktur, die alle stationären Leistungsbereiche der Psychiatrie abdeckt
14 DSM-5 liegt nur für die Diagnosestellung in der Psychiatrie vor!
17 Die WHO hat verschiedene, offizielle Sprachen, dazu zählt auch Französisch; d. h. die französische Version ist identisch mit der Englischen. Offizielle Übersetzungen der diagnostischen Kriterien gibt es weder auf Deutsch noch auf Französisch; solche finden sich auch nicht unter icd.who.int/fr