Und jährlich grüsst das Murmeltier

Leitartikel
Ausgabe
2023/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21621
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(12):22-23

Publiziert am 22.03.2023

FMH-Ärztestatistik 2022 Sämtliche Trends setzen sich langsam aber stetig fort: Die Grundversorgerquote liegt mit 0,8 Vollzeitäquivalent pro 1000 Einwohner unter der empfohlenen Quote von 1. Die Ärztedichte liegt bei 3,9 Vollzeitäquivalent, dies bei einer Pro-Kopf-Äquivalenz von 4,6.
Dass heute ein ärztliches Vollzeitäquivalent in der Schweiz 55 Wochenarbeitsstunden entspricht, und wir bei einer durchschnittlichen ärztlichen Tätigkeit von 48 Stunden pro Woche von Teilzeit sprechen, ist lediglich noch der zunehmenden Überalterung der Ärzteschaft geschuldet. Die junge Generation fordert landesübliche Arbeitspensen ein. Auch die kürzlich veröffentlichte Analyse des International Health Policy (IHP) Survey 2022 der US-Stiftung Commonwealth Fund (CWF) im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zeichnet dieses Bild: Während 2015 noch 12% der praxisambulant tätigen Grundversorgerinnen und Grundversorger über das Pensionsalter von 65 Jahren hinaus tätig waren, lag diese Zahl 2022 bei 18%. Die nachrückenden Generationen bis 54-jährig sind nun deutlich weiblich geprägt: Der Anteil Ärztinnen in der praxisambulanten Grundversorgung ist von 32,9% im Jahr 2015 auf 45,9% im Jahr 2022 gestiegen. Wenn Sie, sehr verehrte Lesende, sich mit diesen Zahlen im Hinterkopf den Grössenordnungen der genderspezifischen Pensen zuwenden, wird rasch klar, dass sich eine weitere Zunahme der schon bestehenden Versorgungsengpässe abzeichnet.
Christoph Bosshard
Dr. med., Vizepräsident FMH, Departementsverantwortlicher Daten, Demographie und Qualität

Auslandabhängigkeit zunehmend gross

Ebenfalls ein Dauerbrenner ist die stetig zunehmende Ausland-Abhängigkeit: Wie lange noch werden wir darauf aufbauen können und wollen? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich danke all unseren Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland, welche tagtäglich mithelfen, unsere Versorgung aufrecht zu erhalten. Aber auch die Herkunftsländer sind nicht untätig, da auch sie vom Fachkräftemangel betroffen sind. Wie lange haben wir in unserem Land noch einen Attraktivitätsvorteil vorzuweisen? Und wie gehen wir ethisch mit diesem von uns verursachten Braindrain um, welcher sich letztlich in den Schwellenländern fortsetzt?

Abbau von Bürokratie dringend nötig

Gerade bezüglich Attraktivität und Ressourceneffizienz ist die leider ungebremste und zunehmende administrative Überlastung eine dringend anzugehende Herausforderung! Mit einer Reduktion könnten sofort wertvolle Arbeitsstunden weg von Papieren und Computer zurück zu unseren Patientinnen und Patienten verschoben werden! Dieser Mechanismus ist auch deshalb nötig, weil er motivationsfördernd ist und damit dem Berufsausstieg entgegenwirkt. Denn eine Ausbildungsoffensive mit Erhöhung der Studienplätze wirkt frühestens nach sechs Jahren Studium und sechs Jahren Facharzt-Weiterbildung bis zur Reife einer praxisambulanten Selbständigkeit, also nach ganzen zwölf Jahren! Leider zeigen alle Entwicklungen in eine gegenteilige Richtung, mit weiterer Zunahme der Bürokratie. Wenn ich dann lesen darf, dass Künstliche Intelligenz (KI) uns hier helfen wird, so versuche ich mir vorzustellen, wie dies dann wohl sein wird, wenn es darum geht, in einer herausfordernden Aufklärung einer neu entdeckten Krebs-Erkrankung der Individualität unserer Patientinnen und Patienten gerecht zu werden oder einen sterbenden Menschen zu begleiten. Da bleibt mir nur die Hoffnung, KI würde auch mit Kollektiver Intelligenz gleichgesetzt. Wenn die Künstliche Intelligenz die Administration erledigt, sei sie dort herzlich willkommen. Dass sie jedoch auch dort nicht gratis arbeitet, ist ein weiteres Thema, auf welches ich hier nicht weiter eingehe.

Praxisambulante Medizin stärken

Nun kann man sich seitens der politischen Verantwortungsträger auch die Frage stellen, ob der Verlust der praxisambulanten Medizin, insbesondere die Grundversorgung, denn überhaupt ein Problem sei. Verantwortlich für die Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung sind die Kantone, und diese sind gleichzeitig als Spitalbetreiber aktiv. Können nun die Spitäler all die Patientinnen und Patienten aufnehmen, welche keine hausärztliche Versorgung mehr finden? Mitnichten. Auch dort herrscht ein Fachkräftemangel, und die Überlastung der Notfallstationen ist regelmässig in den Schlagzeilen der Tagespresse nachzulesen. Dazu ist der Kostenfaktor zu berücksichtigen: Basierend auf den MOKKE-Zahlen hat Prof. Dr. Simon Wieser, ZHAW, am 12. September 2022 aufgezeigt, dass die Kosten pro Versicherten praxisambulant von 2019-2022 um 2,2% jährlich zugenommen haben, im Spitalambulatorium jedoch um 5,8%. Wenn nun also ein Beitrag zur kosteneffizienten Medizin geleistet werden soll, so muss der Weg klar in Richtung Stärkung der praxisambulanten Medizin führen!
Wie im Film «Und täglich grüsst das Murmeltier» wiederholen sich die Trends bei der jährlichen Ärztestatistik.
© Jesper Giortz-Behrens / Unsplash

Aufhören mit Vogel-Strauss-Politik

Die Berner Workforce-Studie prognostiziert für den Kanton Bern bis 2025 eine weitere Abnahme in der Grundversorgung um 25 Prozent. Zur Kompensation würden mehr Ärztinnen und Ärzte benötigt, die sich für die Grundversorgung entscheiden und ein Pensum von mindestens 7,5 Halbtagen pro Woche leisten. Somit kann ein Arzt, der in den Ruhestand geht, seine Nachfolge allenfalls nicht «nur» mit einer einzigen Ärztin oder einem einzigen Arzt regeln. Mangel- und Fehlversorgungen führen erfahrungsgemäss zu zusätzlichen Kosten. Die tiefe Grundversorgerdichte wird durch die unaufhaltbare demografische Entwicklung zusätzlich verschärft: Zwischen 2020 und 2021, also in nur einem Jahr, wuchs die Bevölkerung der Schweiz um 0,8%, und die Zahl der Personen im Alter von 65 Jahren und älter um 1,9%. Das ist kein einzelner Ausreisser, sondern eine klare Tendenz. Angesichts dieser Zahlen ein klassisches Eigentor sind die vom Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) festgelegten regionalen Versorgungsgrade basierend auf dem Ist-Zustand der Anzahl Ärztinnen und Ärzte im Rahmen der Zulassungsbeschränkung von Ärztinnen und Ärzten durch die Kantone. Die statistischen Grundlagen dafür sind ungenügend und erlauben keine Aussagen über eine gegenwärtige, geschweige denn eine zukünftige Unter- oder Überversorgung an Ärztinnen und Ärzten. Sie haben dramatische Folgen für die medizinische Aus- und Weiterbildung und gefährden die Versorgungssicherheit und -qualität. Wenn Eltern für ihre Kinder beispielsweise keinen Kinderarzt finden oder Patientinnen und Patienten monatelang auf eine psychiatrische Behandlung warten müssen, ist das eine folgenschwere Entwicklung mit entsprechenden Auswirkungen, zum Beispiel in Form von schwereren Krankheitsbildern, Arbeitsunfähigkeiten bis hin zum Arbeitsplatzverlust oder weiteren sozialen Problemen. Diesen Realitäten müssen Politik und Behörden sich stellen.

Rahmenbedingungen verbessern!

Das, was ich jetzt zusammengefasst habe, habe ich bereits unzählige Male gesagt, geschrieben, erklärt. Die Entwicklung der Rahmenbedingungen für eine praxisambulante wie spitalärztliche Tätigkeit erwecken keine Zuversicht. Erst recht kämpfen wir weiter für unsere Patientinnen und Patienten, für unsere Mitglieder, für alle, welche an einem gut funktionierenden patientenorientierten und effizienten Gesundheitssystem interessiert sind. Folgende Massnahmen sind zentral: weniger administrative Aufgaben (und damit mehr Zeit für die Patienten), die Erhöhung der inländischen Studienplätze für Medizin, zeitgemässe Tarif- und Finanzierungssysteme (TARDOC, einheitliche Finanzierung von stationären und ambulanten Dienstleistungen EFAS), die auch die Interprofessionalität und Digitalisierung sowie weitere dazukommende Anforderungen wie die neu geforderten umfangreichen Dokumentations- und Nachweisarbeiten berücksichtigen.