Multipler Sklerose auf der Spur

Multipler Sklerose auf der Spur

Schwerpunkt
Ausgabe
2023/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21692
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(17):70-72

Publiziert am 26.04.2023

Forschung Zu Multipler Sklerose (MS) wird in der Schweiz intensiv geforscht. Eine wichtige Grundlage dafür sind die Daten der Schweizerischen Multiple Sklerose Kohorte (SMSC). Im Interview berichtet deren Leiter, Prof. Dr. med. Jens Kuhle, über die Langzeitstudie und einige der Forschungsprojekte, die diese nutzen.
Jens Kuhle, Sie leiten die Schweizerische Multiple Sklerose Kohorte. Worum geht es da?
Wir erfassen seit 2012 systematisch und standardisiert den Krankheitsverlauf von Patientinnen und Patienten mit MS. Unterdessen nehmen fast 1 700 Betroffene teil, die in einem der Schweizer Universitätsspitäler oder in den Kantonsspitälern Lugano, Aarau und St. Gallen behandelt werden. Sie durchlaufen dort alle sechs oder zwölf Monate eine standardisierte Untersuchung. Dazu gehören eine ausführliche neurologische Untersuchung mit dem Neurostatus, die klinische Standarduntersuchung zur Quantifizierung von Befunden bei MS, sowie eine jährliche MRT-Untersuchung und eine Blutentnahme. Unterdessen verfügen wir über Daten von rund 12 000 standardisierten Visiten, 27 000 Blutproben und 7 000 Kopf-MRIs.
Was passiert mit diesen Daten?
Die Schweizerische Multiple Sklerose Kohorte ist unter anderem eine wichtige Grundlage für die translationale MS-Forschung in der Schweiz, die das Ziel hat, die Betreuung von MS-Betroffenen zu verbessern. Da die Kohorte hinsichtlich Datenqualität in dieser Grösse weltweit einzigartig ist, sind wir auch international gern gesehene Projektpartner.
Was erforschen Sie anhand der MS Kohorte?
Am Research Center for Clinical Neuroimmunology and Neuroscience Basel und dem MS Zentrum des Universitätsspitals Basel geht es in vielen Projekten darum, diese sehr komplexe Krankheit aus verschiedenen Blickwinkeln besser zu charakterisieren. Durch die Kohorte haben wir ideale Voraussetzungen, um neue Biomarker zu entwickeln und zu überprüfen, ob sie sich für Forschung und Praxis eignen.
Welche Art von Biomarkern?
Ein Beispiel sind digitale Biomarker. Das sind Untersuchungen, die die Krankheit mit digitalen Mitteln – meist Smartphone oder Smartwatch – erfassen und somit genaue Verlaufsbeurteilungen und idealerweise Prognosen ermöglichen. Mit speziell entwickelten Smartphone-Apps können Betroffene selbst mit kleinen, spielerischen Aufgaben ihre neurologischen Funktionen testen. Die in Smartphones eingebauten Sensoren erfassen dabei eine Fülle von Daten zu Motorik, Koordination, Sehschärfe, aber auch kognitiven Funktionen. Parallel können passive Messungen Aufschluss über das Bewegungsverhalten oder die Schlafqualität geben. Es handelt sich also um eine Art Real-Time-Messung der Auswirkungen der Erkrankung.
Wozu braucht es solche genauen Messungen?
Heute ist der Neurostatus der Goldstandard, um MS zu quantifizieren. Dabei werden ein- bis zweimal jährlich unter anderem Kraft, Reflexe, Koordination und Sensibilität beurteilt. Die Methode ist allerdings anspruchsvoll und aufwändig und gleichzeitig wenig sensitiv für geringe Veränderungen. Das ist ein Problem, denn wie wir unterdessen wissen, verläuft die Erkrankung nicht immer in Schüben, sondern verschlechtert sich bei vielen Patientinnen und Patienten schleichend. Die Betroffenen und wir Mediziner nehmen Veränderungen daher oft gar nicht wahr. Dementsprechend tun wir uns schwer, anhand der heutigen Momentaufnahmen rechtzeitig zu entscheiden, ob und wie wir eine Behandlung anpassen sollen. Die Auswertung digitaler Biomarker bietet nun die Chance, genauer zu messen. Dadurch können wir auch besser zwischen krankheitsbedingten und krankheitsunabhängigen Veränderungen unterscheiden – und präziser und individualisierter behandeln.
Neurons of the nervous system. 3d illustration nerve cells
Um MS zu quantifizieren, ist der Neurostatus der Goldstandard.
© Rostislav Zatonskiy / Dreamstime
Entwickeln Sie noch andere Biomarker?
Wir erforschen auch MRI-Marker, die genauer sind als der Neurostatus oder die bisherige konventionelle MRI-Auswertung. Auch dabei geht es darum, die langsame, schleichende Verschlechterung zu quantifizieren und Mechanismen ihrer Entstehung besser zu verstehen. Unterdessen ist es bereits möglich, den Verlauf der krankheitsbedingten Volumenminderung von Gehirn und Rückenmark zu quantifizieren, diese mit anderen Charakteristika der MS in Beziehung zu setzen und auch zu erkennen, inwieweit sich Schäden regenerieren. Ein wichtiges Thema ist auch hier, MS-bedingte Veränderungen von Folgen anderer Erkrankungen oder dem Alterungsprozess zu unterscheiden.
Womit befasst sich Ihre eigene Forschungsgruppe?
Ein Grossteil meiner Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit Biomarkern im Blut. Die Idee ist, damit den aktuellen Aktivitätsstand der Krankheit zu beschreiben. Wir hatten das Glück, bereits einen erstklassigen blutbasierten Biomarker zu entwickeln und in Richtung Anwendung zu validieren: Das sogenannte «Neurofilament light chain», kurz NfL. Es handelt sich um ein spezifisches Strukturprotein von Nervenzellen, das frei wird, wenn Nerven geschädigt oder zerstört werden. Der Marker wird bereits in verschiedenen Ländern eingesetzt.
Wozu dient NfL?
Letztlich geht es bei MS immer um die Frage, ob beim einzelnen Betroffenen die Krankheit stabil ist, beziehungsweise optimal behandelt wird oder nicht. Wir konnten zeigen, dass erhöhte NfL-Werte im Blut mit Krankheitsaktivität in Form von Schüben oder neuen MRI-Herden einhergeht. Diese erhöhten NfL-Konzentrationen im Blut können wir in den meisten Fällen durch effektive Medikamente normalisieren. Unterdessen haben wir dank der MS Kohorte noch einen zweiten Biomarker entdeckt, den «Glial fibrillary acidic protein», abgekürzt GFAP, der möglicherweise sehr sensitiv ist und die schleichende Progression der Erkrankung noch direkter anzeigen könnte.
Welche Vorteile bringen diese Biomarker den Patientinnen und Patienten konkret?
In der Patientenbetreuung geht es zunehmend darum, präziser zu entscheiden, für wen wann welche Therapie am besten ist. Wir erhoffen uns hier von den Biomarkern mehr Informationen, die uns zuverlässig helfen können, die Therapien individueller zu steuern. Konkret würde das bedeuten, dass wir MS-Betroffene, die nur scheinbar stabil sind und bei denen wir heute mit unseren klinischen Untersuchungen keine Krankheitsaktivität erkennen, besser behandeln und zum Beispiel rechtzeitig auf ein stärkeres Medikament umstellen könnten. Auf der anderen Seite wären wir eventuell in der Lage zu erkennen, wer langfristig stabil ist. Das würde es ermöglichen, Therapien – die zwar selten aber doch schwerwiegende Nebenwirkungen haben können – zu reduzieren oder ganz zu stoppen.

MS-Forschungspreis

Die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft unterstützt die SMSC von Beginn an mit massgeblichen finanziellen Beiträgen und inhaltlich im Expertennetzwerk der MS-Gesellschaft, unter anderem auch durch die enge Zusammenarbeit mit dem Schweizer MS-Register. So wurde die Arbeit der Kohortenstudie im Januar mit dem Schweizer MS-Forschungspreis ausgezeichnet. Ohne die grosse finanzielle und inhaltliche Unterstützung durch die MS-Gesellschaft wäre eine solche Forschungsarbeit über einen längeren Zeitraum kaum zu realisieren.
Untersuchen Sie auch den Einfluss verschiedener Therapien?
Ja. Die Schweizer MS Kohorte bietet auch eine einzigartige Ausgangslage, um herausfinden, welche diagnostischen Methoden oder Therapien für die Betroffenen im Alltag am nützlichsten sind. Wir motivieren die über Jahre systematisch dokumentierten Patientinnen und Patienten, an sogenannten randomisierten pragmatischen Studien teilzunehmen. Diese bieten sich an, wenn wir diagnostische oder therapeutische Methoden haben, von denen wir schlicht nicht wissen, welche in der Praxis besser sind.
Wie gehen Sie dabei vor?
Wir vergleichen zum Beispiel zwei Methoden, indem wir eine Hälfte der Studienteilnehmenden auf eine Art und die zweite Hälfte auf eine andere Art untersuchen oder behandeln. Da völlig offen ist, welche Methode besser ist, wählen wir die Therapie zufällig aus. Natürlich immer mit Einverständnis der Betroffenen. Dank der Kohorte können wir dann den Krankheitsverlauf bei den teilnehmenden Patientinnen und Patienten ohne Zusatzaufwand beobachten, bis wir sagen können, welche Methode besser abschneidet. Mit den Ergebnissen können wir dann dafür sorgen, dass Patientinnen und Patienten die für sie beste Untersuchung oder Behandlung bekommen.
Haben Sie ein Beispiel für ein konkretes Projekt?
Als Nächstes werden wir untersuchen, ob der Marker NfL in der klinischen Praxis tatsächlich einen Mehrwert bringt: Der Biomarker wird bei einer grossen Gruppe alle sechs Monate getestet und die Therapie je nach Messwert gemäss Empfehlungen angepasst, die wir mit den teilnehmenden Zentren vorgängig ausgearbeiteten haben. Die zweite Gruppe wird, wie bisher, nach aktuellem «Best Practice»-Standard behandelt.
Können Sie dank der Kohorte schon mehr zu den Ursachen von MS sagen?
Im Research Center for Clinical Neuroimmunology and Neuroscience Basel beschäftigen sich mehrere Forschungsgruppen mit Mechanismen der Krankheitsentstehung oder der Progression der Krankheit. Unter anderem wird zum Mikrobiom geforscht, denn Darmbakterien und Ernährung spielen möglicherweise eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Entwicklung der MS. Wir erforschen auch die Rolle der B-Zellen: Man hat herausgefunden, dass diese zu zerstören eine effektive Therapie gegen MS ist. Nun versuchen wir zu verstehen, wie B-Zellen dazu beitragen, dass die Krankheit auftritt. Zudem untersuchen unsere Forschenden auch, inwiefern das Eppstein-Barr-Virus an der Entstehung von Multiple Sklerose beteiligt ist.
Prof. Dr. med. Dr. phil. Jens Kuhle
Leiter des MS Zentrums der Neurologie des Universitätsspitals Basel und Leiter Multiple Sklerose Zentrum an der Universität Basel.