Netto-Null in der Forschung?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2023/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21710
Schweiz Ärzteztg. 2023;(16):82

Publiziert am 19.04.2023

Im Februar dieses Jahres widmete der Präsident der Kantonalen Ethikkommission der Forschung Zürich, David Nadal, den neuen Dimensionen, die sich aus der wachsenden Bedeutung der Klimaproblematik für die Arbeit der Kommission ergeben, eine eigene Sitzung. An dieser durfte ich teilnehmen. Welche Aspekte spielen eine Rolle? Zunächst einmal gilt auch hier der Grundsatz: «Vor allem nicht schaden.» Die Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Umwelt respektive Klima werden zunehmend besser verstanden [1]. Das bedeutet, dass der Klimawandel ein Thema ist, mit dem sich auch das Gesundheitswesen intensiv beschäftigen muss. Dabei gilt es, bestimmte zentrale Aspekte zu berücksichtigen:
1. Das Konzept «One Health» oder «Planetary Health», das die Gesundheit von Mensch, Tier (Zoonosen) und Umwelt – also allem Lebendigen – betrachtet, aber auch soziale und wirtschaftliche Fragen einschliesst. Ausgearbeitet wurde dieses Konzept [2] von unserem Landsmann Jakob Zinsstag. 2. Das Konzept der Ökosystemdienstleistungen, das heisst «das Wohlbefinden, das die Natur dem Menschen verschafft». Das ist die Interdependenz des Lebens. Es ist wichtig, sich nicht nur um die Menschen, sondern gleichermassen auch um die Ökosysteme zu kümmern! 3. Der wechselseitige Nutzen, der sich aus einer gesunden Umwelt und unser aller Gesundheit ergibt. 4. Das sogenannte «Donut-Modell» von Kate Raworth, das für ein ausgewogenes Gemeinschaftsleben Lösungen zwischen einer zu garantierenden sozialen Untergrenze und einer nicht zu überschreitenden ökologischen Obergrenze finden will. 5. Was das Klima betrifft, so steht heute fest, dass es keine Rückkehr zum Status quo ante geben kann. Und in naher Zukunft wird dies eine Morbidität und Mortalität verursachen, die um ein Vielfaches höher sein werden als bei der COVID-19-Pandemie.
Jean Martin
Dr. med., ehemaliger Kantonsarzt Waadt
In der Forschung müssen die entsprechenden Aufsichtsgremien untersuchen, inwieweit ein Projekt und die daraus resultierenden Ergebnisse die Treibhausgasemissionen negativ beeinflussen – also erhöhen – können. Diese Auswirkungen gilt es also vorab zu bewerten.
Hier lässt sich eine Parallele zur Genderfrage ziehen. Der Tatsache, dass Krankheitsbilder und Verläufe sich bei Frauen anders gestalten als bei Männern, wird zunehmend Rechnung getragen. Vor diesem Hintergrund findet nun das Geschlecht der Personen, die sich als Probanden zur Verfügung stellen, bei der Analyse von Projekten Berücksichtigung. Heute geht es darum, eine solche Prüfung im Hinblick auf die Umwelt zu vollziehen. Hierzu ist es wichtig, in den Anträgen einen entsprechenden Abschnitt vorzusehen. Die Beurteilung ist nicht immer einfach, aber es werden entsprechende Instrumente entwickelt und verfügbar gemacht, etwa von der «Sustainable Health Care Coalition». Weitere zu berücksichtigende Fragen sind: Arbeitet das betreffende Projekt mit Low-Tech-Ansätzen? Trägt es zu einer wünschenswerten sozial-ökologischen Transformation bei? Manche Aspekte sind nicht direkt forschungsbezogen, aber sehr energieintensiv: Dazu gehören Flugreisen (die Mobilitätspolitik der Forschenden ist von entscheidender Bedeutung), der Strom für den Betrieb der Geräte und die Heizung der Räumlichkeiten. Und darüber hinaus: Eine kantonale Ethikkommission für Forschung kann und sollte sich als gesellschaftlicher Akteur an der öffentlichen Debatte über Umweltauswirkungen beteiligen. Weiter gilt es, das diesbezügliche Engagement der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zu unterstützen, um die medizinische Praxis und Forschung nachhaltiger zu gestalten [3].
1 Siehe das Buch von Senn N et al. «Santé et environnement – Vers une nouvelle approche globale». Chêne-Bourg: RMS Editions; 2022.
2 Dolder L. Ein Virus für alle. Schweiz Ärzteztg. 2023;104(09):70-71.
3 Siehe ihre Publikation «Umweltbewusste Gesundheitsversorgung in der Schweiz» (2022) und das von ihr am 8. Juni 2023 in Bern veranstaltete «Schweizer Forum für ein nachhaltiges Gesundheitssystem: Wie kann der Wandel gelingen?»