Kirmes im Kopf

Interview
Ausgabe
2023/18
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21721
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(18):16-20

Besprochener Wirkstoff

Publiziert am 03.05.2023

ADHS In die Praxis von Monika Ridinger kommen Menschen mittleren Alters, die ein bisschen anders ticken als der Durchschnitt. Sie sind impulsiver, leichter abzulenken und innerlich unruhig, wenn sie eigentlich zur Ruhe kommen sollten. Die Psychiaterin erklärt, was Erwachsene mit ADHS ausmacht und in welchen Fällen eine Therapie sinnvoll ist.
Monika Ridinger, wenn Sie nur ein Bild hätten, um die Krankheit ADHS zu beschreiben, welches wäre es?
Es gibt ein schönes Foto von Kindern, die vor einem Balken in einer Reihe stehen und ein Kind, das hängt kopfüber an diesem Balken. Das ist ADHS. Anders sein. Man reiht sich nicht ein.
Die beiden Kernsymptome bei ADHS sind Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität. Wie äussern sich diese denn bei Erwachsenen im Alltag?
Aufmerksamkeitsstörung heisst eigentlich Ablenkbarkeit. ADHSler können sich gut konzentrieren. Sie sind aber ablenkbar. Man kann von äusseren Reizen abgelenkt werden, also von allem, was man sieht, hört oder was gerade um einen herum passiert. Es wirken aber auch innere, einschiessende Gedanken ablenkend. So etwas wie: «Habe ich noch genug Milch im Haus? Muss ich nachher einkaufen gehen?»
ADHS nennt man auch das Zappelphilipp-Syndrom. Haben erwachsene ADHSler auch Probleme mit dem Stillsitzen?
Die Hyperaktivität muss sich nicht immer motorisch auswirken. Eigentlich handelt es sich eher um eine innere Unruhe. Ein inneres Getriebensein. Es gibt Leute, die sagen: «Mein Gehirn steht nie still. Das dreht sich immer.» Es kann sein, dass diese Menschen unruhig sind und dann zappeln sie. Oder sie spielen mit den Fingern, drillen die Haare oder wackeln mit den Beinen, all so etwas. Bei Kindern fällt dieses Verhalten eher auf, denn sie sind so ungebremst. Die Erwachsenen versuchen ja, brav zu sein. Oder sie gestikulieren dann viel. Aber eigentlich kommt der Antrieb immer von innen. Das Gehirn ist hyperaktiv. Es ist in der Aktivität überschiessend.
Wie kann sich dieses innere Getriebensein noch äussern?
Es ist tatsächlich eine Form von Impulsivität. Das kann sich auch darin äussern, dass diese Menschen ein Projekt nach dem nächsten haben. Manche sehen ein Stäubchen auf dem Boden und müssen aufstehen, um das jetzt sofort wegzuräumen. Oder sie sind in der Küche beim Abwaschen und sehen dann aber, dass da hinten der Mülleimer voll ist. Dann müssen sie den Beutel wegräumen und haben danach vergessen, dass sie eigentlich mit dem Abwaschen beschäftigt waren.
Stimmt es, dass Menschen mit ADHS häufig Aussenseiter sind?
ADHS ist eine sehr früh beginnende, wahrscheinlich auch vererbte Störung. Das Gehirn funktioniert ein bisschen anders bei diesen Menschen. Sie fallen deshalb heraus aus dem gewöhnlichen gesellschaftlichen Miteinander. Je mehr sie in Raster gepresst werden, umso schwieriger wird es für die Betroffenen, das Anderssein, das So-Sein, als normal oder als Okay-Sein zu leben. Viele haben auch eine Selbstwertproblematik, weil sie immer wieder Versagen erlebt haben oder aufgefallen sind.
PD Dr. med. Monika Ridinger ist Psychiaterin und Psychotherapeutin. Die Suchtmedizinerin beschäftig sich seit den 90er Jahren mit dem Thema ADHS bei Erwachsenen und ist Botschafterin der Organisation adhs20+. In ihrem Buch «ADHS und Sucht im Erwachsenenalter» präsentiert sie aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse anhand praktischer Fallbeispiele.
© Reto Schlatter
Gibt es dafür eine neurologische Erklärung?
ADHSler haben im Wesentlichen drei geschwächte Zentren im Gehirn: den präfrontalen Cortex, den Thalamus, der als Filter für Sinneseindrücke fungiert, und das limbische System, welches Affekt- und Triebverhalten steuert. Wenn plötzlich einschiessende Gefühle kommen wie «Das nervt mich!», dann kommen sie bei den Betroffenen durch den geschwächten Filter intensiver an. Dadurch nervt sie das stärker als die Nicht-ADHSler. Und zusätzlich haben sie ein beeinträchtigtes Steuerungsorgan, das normalerweise sagen würde: «Nein. Jetzt musst du nicht ausrufen.» Das funktioniert aber bei den Betroffenen nur schlecht. Und deshalb kommt es zum Beispiel zu Wutausbrüchen.
Wir haben viel von den Schwächen der ADHSler gesprochen. Wie sieht es auf der Stärken-Seite aus?
Für mich sind das alles «So-Seins». Ich finde es immer schwierig, überhaupt in Stärken und Schwächen zu sprechen. Denn dann pathologisiert man das Thema zu stark. Ich fände es deshalb besser zu sagen, das Gehirn funktioniert bei diesen Menschen eben so. Wenn ADHSler gut mit sich umgehen, dann können sie ihren Alltag oft sogar besser planen als viele Nicht-ADHSler. Ausserdem sind sie bekannt für ihre Begeisterungsfähigkeit, Kreativität und Neugier. Vielleicht auch für eine gewisse Naivität. Die Worte purzeln manchmal einfach aus ihrem Mund. Das macht sie aber so sympathisch, denn das, was sie sagen, ist ehrlich. Im sozialen Miteinander kann das ein Nachteil sein. Aber menschlich ist es unheimlich sympathisch. Und das ist ein Vorteil. Diese Menschen sind immer echt.
Warum kommen erwachsene Betroffene zu Ihnen in die Praxis?
Die Erwachsenen, die zu mir kommen, sind durchschnittlich zwischen 40 und 50 Jahre alt. Vielleicht 5% hatten bereits eine Diagnose in der Kindheit. Und die wenigsten sind gescheiterte Existenzen. Aber sie haben ihre Lebenserfahrung gesammelt. Manch eine Person ist auch mal gescheitert oder hatte Misserfolge. Zum Beispiel kommen Frauen, wenn sie das zweite oder dritte Kind bekommen haben. Denn sie sagen: «Bis hierhin habe ich das organisatorisch noch hingekriegt. Aber jetzt komme ich nicht mehr hinterher, jetzt schaffe ich es nicht mehr, den Alltag zu strukturieren.» Ein anderer Grund, aus dem Betroffene kommen, ist die emotionale Dünnhäutigkeit. Wenn ADHSler Kritik ausgesetzt sind, etwa einem Feedback in Mitarbeitergesprächen, dann können sie sich furchtbar aufregen oder Sorgen und Zweifel haben. Das stürzt sie in unglaubliche Tiefen.

Zahlen und Fakten zu ADHS

Die Abkürzung ADHS steht für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Bei dieser neurobiologischen Erkrankung kommt es zu einer veränderten Informationsübertragung zwischen Nervenzellen im Gehirn. Das Gleichgewicht der Neurotransmitter ist verändert. Insbesondere Dopamin und Noradrenalin spielen hier eine Rolle.
Weltweit geht man davon aus, dass 5% aller Kinder betroffen sind. Bei etwa 60% bleibt die ADHS im Erwachsenenalter bestehen.
Als Ursachen für ADHS gelten unter anderem die genetische Veranlagung, Umwelteinflüsse wie Komplikationen bei der Geburt oder Drogen- und Nikotinkonsum während der Schwangerschaft sowie psychosoziale Einflüsse wie familiäre Instabilität, psychische Erkrankungen eines Elternteils oder häufige Kritik und Bestrafungen.
Informationen zum Thema gibt es hier:
Schweizerische Fachgesellschaft ADHS www.sfg-adhs.ch
elpos Schweiz www.adhs-organisation.ch
sowie auf der Fachtagung «AD(H)S und Folgeerscheinungen» am 11. Mai 2023 in Zürich. Anmeldung an: info@adhs20plus.ch
Welche Verfahren nutzen Sie zur Diagnose von ADHS?
Wir haben keine standardisierte Messmethode, die uns ermöglicht, Veränderungen im Gehirn zuverlässig zu messen. Wir haben zwar quantitative EEG-Methoden und neuropsychologische Methoden, mithilfe derer wir vieles objektivieren könnten. Das reicht aber nicht. Wir müssen im Querschnitt fragen: «Was haben Sie jetzt?» Dafür haben wir gut standardisierte Fragebögen, die sehr valide und zuverlässig sind. Die alleine geben uns allerdings nur Aufschluss über die aktuelle Symptomatik. Aber worin hat sie ihren Ursprung? Ist es eine Demenz? Ist es ein Hirntumor? Ist es eine schwere Depression? Ist es eine ADHS? Ist es eine Persönlichkeitsstörung? Das wissen wir dadurch nicht. Dann schaut man im Längsschnitt: Besteht die Symptomatik seit der Kindheit? Ich sage den Leuten immer: «Ich gehe einmal mit Ihnen durch die Psychiatrie und einmal durch Ihr Leben.»
An wen können sich Grundversorgende wenden, wenn sie eine Patientin oder einen Patienten mit Verdacht auf ADHS haben?
Ich würde immer empfehlen, gezielt Psychiater anzuwählen, die sich auf dieses Thema spezialisiert haben. Es gibt entsprechende Listen von der Organisation adhs20+ oder der Schweizerischen Fachgesellschaft (SFG) für ADHS. Der Allgemeinmediziner kann aber auch zunächst einem beliebigen Psychiater zuweisen, der die psychiatrische Grundversorgung übernimmt. Denn dieser betroffene Mensch hat ja ein konkretes Problem, eine Depression oder eine Angststörung. Und dabei könnte vielleicht ADHS eine Rolle spielen. Dem gehe ich dann auf den Grund. Ich sage den Betroffenen immer, das ist so wie wenn Ihr Hausarzt vermutet: «Da könnte was an Ihrem Herzen sein, ich schicke Sie mal zum Herzspezialisten.» Nur bin ich ADHS-Spezialistin.
Wie ist der Zusammenhang zwischen ADHS und anderen psychischen Erkrankungen?
Ganz genau weiss man es nicht. Aber die Affektlabilität ist Teil der Impulskontrollstörung und der Reizoffenheit. ADHSler reagieren schneller und intensiver auf Kritik oder Lob und sind deshalb sensibler, dünnhäutiger. Das ist so das Klassische bei ADHS. Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt im Stundentakt. Die Betroffenen sind verletzlicher, weil der präfrontale Cortex geschwächt ist. In der Folge reagiert der Mensch eher sorgenvoll. Und schon haben Sie einen guten Nährboden für Ängste und Depressionen. Zwänge sind bei ihnen oft auch ein Thema. Denn über Gewohnheiten muss man nicht nachdenken. ADHSler profitieren generell von festen Strukturen, das entlastet sie.
Welche medikamentösen Therapieansätze gibt es?
Wir haben heute Medikamente, die genau da ansetzen, wo sie im Gehirn gebraucht werden. Das sind die Stimulanzien. Bei Erwachsenen sind allerdings viel weniger Medikamente zugelassen als bei Kindern. First-Line-Therapie sind Methylphenidat-Präparate mit Langzeitwirkung wie Focalin, Concerta, Medikinet MR. Dann gibt es Second-Line-Präparate, das sind Amphetamine wie Elvanse. Zusätzlich gibt es das Atomoxetin Stattera. Im Off-Label-Bereich sind auch Antidepressiva wirksam, zum Beispiel Venlafaxin oder andere Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Fluoxetin. Wellbutrin kann man auch einsetzen, denn es kann hilfreich sein zur Stimmungsstabilisierung. Man kann auch Mood Stabilizer wie Pregabalin einsetzen.
Ich finde die Auseinandersetzung der Betroffenen mit den Medikamenten sehr wichtig. Alle erwähnten Präparate wirken unterschiedlich schnell und unterschiedlich stark. Es ist wichtig, dass die Betroffenen damit Erfahrung sammeln.
Die Therapie läuft also über Trial and Error der Medikamente?
Ja und nein. Eine Reizabschirmung, die dickere Haut, das kann das Medikament bewirken. Aber wie sich der Mensch fokussiert, welcher Gedanke gedacht werden soll, das muss er erst mal lernen.
Und dafür braucht es noch andere Therapieansätze?
Richtig. Wenn das Gehirn gut mit Botenstoffen versorgt ist, dann ist es fähig, Ressourcen zu nutzen. Aber die Gedankenmuster sind ja immer noch die Gleichen. Das heisst, man muss fragen: Welche Muster muss die betroffene Person verändern? Welcher Gedanke ist es wert, gedacht zu werden? Das kann kein Medikament entscheiden. Dazu braucht man Techniken zur Impulssteuerung und zum Stoppen von Gedanken. Zusätzlich braucht die Person eine gute Tagesplanung. Denn wenn sie weiss, dass sie nachher, wenn sie zum Bahnhof geht, Milch kaufen wird, dann kann sie den Gedanken daran stoppen und sich wieder auf das Gespräch oder die Tätigkeit konzentrieren. Impulssteuerung und Planung gehen also Hand in Hand. Und das trainiere ich mit meinen Patientinnen und Patienten an konkreten Alltagssituationen.
Personen mit ADHS sind sehr leicht abzulenken. Ihnen hilft Monika Ridinger, sich besser zu fokussieren.
© Reto Schlatter
Gibt es bei der medikamentösen Therapie Risiken?
Absolut! Das ist der Grund, aus dem ich immer wieder sage: «Machen Sie sich Mühe mit der Diagnostik.» Stimulanzien machen potenziell abhängig. Jede psychotrope Substanz wirkt dopaminär. Kaffee, Alkohol, LSD, Heroin, Kokain, all das bewirkt im limbischen Belohnungssystem eine Verbesserung der Botenstoffwirkung, hat aber eine Eigenwirkung, die süchtig machen kann. Die Betroffenen sind irgendwann auf ihre individuelle Dosis eingestellt, bei der ihr Gehirn genügend Dopamin verstoffwechselt und ihre Symptome gelindert werden. Wenn sie diese Dosis überschreiten, verstärkt sich die psychotrope Wirkung. Dann können Nebenwirkungen auftreten, die Betroffenen können sich unruhig fühlen oder Schlafprobleme bekommen.
Bei ADHS-Betroffenen kommen Suchtprobleme doppelt so häufig vor wie in der Allgemeinbevölkerung. Warum ist das so?
Am wahrscheinlichsten ist die Selbstmedikationshypothese [1]. Studien zufolge liegt bei 25% der Alkoholabhängigen, 19% der Kokainabhängigen sowie 18% der Opioidabhängigen eine ADHS vor [2]. Psychotrope Substanzen bewirken immer eine bessere Verfügbarkeit und Konzentration von Botenstoffen im Belohnungssystem. Bei einem zuvor unbehandelten ADHSler sagt das Gehirn nach der Einnahme der Stimulanzien: Wunderbar, ich bekomme jetzt endlich mehr Botenstoffe. Der Mensch merkt: Wunderbar, ich werde viel ruhiger. Letztlich nutzen sie das Dopamin und nehmen die Eigenwirkung in Kauf. Vielleicht lernen sie auch die Eigenwirkung schätzen, was das Suchtrisiko erhöht.
Muss man ADHS im Erwachsenenalter überhaupt therapieren, wenn es sich doch eigentlich um ein «So-Sein» handelt?
Nein, muss man nicht. Wir behandeln nicht die ADHS, sondern ausschliesslich das Leiden. Wenn jemand mit dem So-Sein gut klarkommt, ist das wunderbar. Wir erleichtern mit unserer Therapie die Symptomatik und trainieren darauf aufbauend Muster, damit sich die Menschen in ihrem Umfeld wohlfühlen. Es gibt etliche Betroffene, die sagen: «Alleine mit mir und mit meinem Gehirn bin ich gut klar gekommen. Mit Familie und Kindern wird das ein Problem.» Das, was man sich angeeignet hat, was bisher funktioniert hat, geht jetzt nicht mehr. Dort setzen wir an. Und nur dort. Wir behandeln also nicht das ADHS-Gehirn, sondern sehr individuell die Betroffenen in ihrem Umfeld.
1 Groenman et al., Childhood Psychiatric Disorders as Risk Factor for Subsequent Substance Abuse: A Meta-Analysis 1986-2016, J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2017 Jul;56(7):556-569. doi: 10.1016/j.jaac.2017.05.004.
2 Rohner et al., Prevalence of Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) among Substance Use Disorder (SUD) Populations: Meta Analysis , Jan 2023, Int J Environ Res Public Health. doi: 10.3390/ijerph20021275.

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