Langeweile auf Rezept

Langeweile auf Rezept

Praxistipp
Ausgabe
2023/16
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21734
Schweiz Ärzteztg. 2023;(16):80-81

Publiziert am 19.04.2023

Wellbeing Unser Autor braucht keine Evidenz, um zu erkennen, was ihm und seinen Patientinnen und Patienten besonders gut tut: eine Stunde «Me-Time» pro Tag, quasi gezieltes Nichtstun. Eine Anleitung zum Nachahmen.
Vanessa Kraege fordert uns in ihrer Kolumne vom 1. März auf, als Ärztinnen und Ärzte gute Vorbilder zu sein, beispielsweise bei der Ernährung oder Bewegung. Unsere Patientinnen und Patienten profitierten davon, indem sie unserem Beispiel folgten. Diese Meinung teile ich und spanne in der heutigen Kolumne den Faden weiter. Wenn wir das (vor)leben, was wir empfehlen, profitieren unsere Patientinnen und Patienten sogar, wenn sie unsere Lebensgewohnheiten nicht kennen. Weil wir fit, motiviert und zufrieden sind, verbessert sich die Qualität unserer Betreuung automatisch.
© Luca Bartulović
Kraeges Aufzählung füge ich heute ein weiteres Element hinzu. In meiner Agenda steht täglich der Termin « Me-Time». Es ist eine Zeit, für die ich bloss plane, dass ich dann nichts plane. Es ist das Zeitfenster, das für mich und mein Wohlbefinden reserviert ist. Ganz egal, wie voll mein Tag ist, diese Stunde bleibt immer blockiert. Neue Termine werden drum herum geplant.
Das Prinzip des «Time Blocking» ist simpel. Für besonders wichtige und dringende Aufgaben wird Zeit in der Agenda reserviert. Optimalerweise werden auch sämtliche Störungsquellen ausgeschaltet: Flugmodus einschalten, Mailprogramm schliessen und so weiter. Spannenderweise kannte ich das «Time Blocking» bereits in meinem früheren Leben, aber damals habe ich es falsch angewandt, sodass es meinem Wellbeing mehr schadete als nützte. Zur «Selbstoptimierung» versuchte ich, möglichst jede Minute, die ich wach war, produktiv zu nutzen. Im Praxisalltag oder in der Politik kamen die Störungen trotzdem rein und die Aufgabe blieb unerledigt, bis mich niemand mehr störte – abends nach 21 Uhr oder morgens um 6. Gekürzt habe ich jeweils meine Erholungs- oder Schlafzeit. Klar ist sowas nicht gesund, dafür brauche ich keine Studien zu lesen oder Fachpersonen zu fragen!
Dieses Prinzip habe ich nun umgekehrt: ganz egal wie viele Aufgaben reinschneien, es gibt das blockierte Zeitfenster. Das Umdenken bezüglich Zeitplanung begann während meiner Chemotherapie und in der Zeit danach. Die Tage waren lang, die Agenda ungewohnt leer.
In meinen Alltag baute ich fix ein, was mir gut tat: Morgenroutine, Bewegung, Meditation, gesundes Kochen, achtsames Essen.

Stricken, tanzen, spazieren

Damals machte ich eine überraschende Entdeckung. Die unverplante Zeit zwischen den Routinen wurde immer wertvoller. Je langweiliger es mir war, desto eher wurde mein Tag durch kreative Tätigkeiten befriedigend und spannend, ich entdeckte unbekannte oder vergessene Fähigkeiten und Interessen. Von aussen betrachtet sind das wohl keine Paradebeispiele an Kreativität, aber für mich hatten Lesen, Gedanken mit Füllfeder aufschreiben, wie wild zu Discomusik tanzen, Waldspaziergänge, Stricken, nichts tuend auf dem Balkon sitzen, der Natur zuhören, das Wetter beobachten, Zeichnen, Gärtnern und so weiter einen anregenden Effekt. Viel zu lange hatte «Langeweile» keinen Platz in meinem Alltag gehabt.
Mit der langsamen Rückkehr in den beruflichen und politischen Alltag musste ich sehr bewusst diese «Langeweile-Inseln» verteidigen. Heute plane ich auf Monate hinaus täglich mindestens einen stündigen « Me-Time»-Termin. Ich muss ihn zwar manchmal innerhalb des Tages verschieben, aber löschen ist tabu und er ist verbindlich. Ich nehme mir für diese Zeit nichts Bestimmtes vor, damit ich dann wirklich spontan entscheiden kann, was ich gerade brauche. Damit die Me-Time tatsächlich ihren Zweck erfüllt, gelten ein paar Regeln: kein Pendenzenabbau, kein Füllen mit fixen Routinen wie Sport, Meditation, Spaziergang, Power Nap, kein TV, möglichst keine digitalen Geräte ausser für gezielte Recherchen und wenn ich in den Flow komme, darf die Stunde auch mal 75 oder gar 120 Minuten dauern. Die regelmässige «Langeweile» macht meinen Tag spannend.
Ausnahmsweise nenne ich Ihnen keine Expertenmeinung oder Studien, die belegen, was schon auf der Hand liegt. Diese «Erfahrungsmedizin» können Sie auch ohne Evidenz ausprobieren und in der Sprechstunde weiterempfehlen. Reservieren Sie sich täglich eine Stunde « Me-Time» im Kalender und entdecken selber, wie gesund, anregend und spannend geplante Langeweile sein kann.
Angelo Barrile
Der Hausarzt und Nationalrat schreibt an dieser Stelle regelmässig über die Themen Wellbeing und Work-Life-Balance.