Was heisst hier Ethik?

Praxistipp
Ausgabe
2023/2021
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21789
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(2021):72-73

Publiziert am 17.05.2023

Ethik Sind die Missstände im Gesundheitswesen gross, wachsen auch die ethischen Bedenken. Aber was genau bedeutet Ethik eigentlich und was kann sie leisten? Unser Autor unterteilt sie in zwei Kategorien: Ethik als Disziplin kann sogar Spass machen, wird sie als Alarmsignal verwendet, stossen Fachpersonen oft an Grenzen.
Die Ethik nimmt einen zunehmenden Stellenwert in unserem Gesundheitswesen ein. Doch es ist nicht immer klar, was genau mit dieser «Ethik» gemeint ist und wie Ärztinnen und Ärzte ethische Unterstützung anfordern können, wenn sie sie brauchen. Diese Unklarheit hat auch damit zu tun, dass der Begriff der Ethik zum einen benutzt wird, um über die Disziplin zu sprechen. Zum anderen wird er verwendet als eine Art Alarmsignal, wenn man auf Missstände im Gesundheitswesen hinweisen will. Ich biete hiermit als Tipp für die Praxis folgende gedankliche Unterscheidung an:

Ethik als Disziplin

Die Ethik kommt in unserem Gesundheitswesen zum Beispiel an Universitäten vor, und zwar als «Medizinethik» oder «Bioethik». Dort wird an ethisch-relevanten Themen geforscht und es werden Studentinnen und Studenten in Ethik unterrichtet. Eine solche Ethiklehre ist zum Beispiel im Medizinstudium mittlerweile gängige Praxis, und es macht den meisten Studierenden überraschend viel Spass, medizinische Praxisfälle aus ethischer Sicht zu analysieren. Aber was heisst hier ethische Sicht? Es heisst, dass man die reine medizinisch-naturwissenschaftliche Sprach- und Denkwelt verlässt und sich auf die Werte und Normen, auf Wertekonflikte und kulturelle Dimensionen von Fällen fokussiert. Es heisst also, dass man einen eher geisteswissenschaftlichen Blick auf denselben medizinischen Fall legt, den man vorher medizinisch angeschaut hatte. Dieser Blick bietet die Möglichkeit eines «critical thinkings», eines Perspektivenwechsels, eines Denkens in Pro- und Contra-Argumenten, und vor allem: Er bietet eine Abstraktion von der eigenen Moral. Es muss nicht immer das richtig sein, was man selbst für richtig hält. Ethik handelt immer davon, dass man sich (empathisch!) in Distanz setzt, nicht bei den eigenen moralischen Werten stehen bleibt, sondern überlegt, wie es noch sein könnte, neue Ideen, neue Wege entwickelnd.
Und diese unterstützenden Denkmöglichkeiten bestehen in der Schweiz auch in den meisten Spitälern, denn rund die Hälfte aller Schweizer Spitäler verfügt über klinische Ethikkommissionen. Hier spricht man von «klinischer Ethik», weil diese Ethikangebote, Fallbesprechungen, Weiterbildungen direkt in der Klinik zu finden sind. All diese Fachpersonen in Ethik in unseren Kliniken verfügen über die methodologischen Werkzeuge, Ärztinnen und Ärzten (und anderen Gesundheitsfachpersonen) beim Denken zu helfen, wenn es um schwere Entscheidungen und ethische Probleme in der Behandlung von Patientinnen und Patienten geht. Probieren Sie es einfach mal aus. Es kann sogar Spass machen.
© Luca Bartulović

Ethik als Alarmsignal

Leider bekommt die Disziplin der Ethik aber oft einen ganz emotionalen Beigeschmack, wenn sie als Ausdruck der Empörung verwendet wird. Jede und jeder von uns hat das schon mal gehört: «Das ist aber unethisch.» Oder: «Das geht ethisch gar nicht.» Diese Alarm-Nutzung des Wortes Ethik im Hinweis auf Missstände mag berechtigt sein, aber diese Missstände können meistens nicht von Ethikern oder Ethikerinnen gelöst werden. Das bringt uns Ethiker oft in Bedrängnis, in Missverständnisse. Deshalb gilt es, diese Diskrepanz für die Praxis im Auge zu behalten: Ethiker können nicht alles lösen, was andere Personen als ethisch-fragwürdig empfinden. Natürlich ist es ethisch fragwürdig, wenn die Finanzierung unseres Gesundheitswesens an die Grenzen kommt (weil das zum Beispiel unsere Werte von Solidarität und Fairness infrage stellt), aber das müssen Politikerinnen und Politiker ändern, nicht Ethiker. Und natürlich ist es ethisch bedenklich, wie sich der Fachkräftemangel auf die Patientensicherheit auswirkt (weil uns diese Sicherheit ein wichtiger Wert ist), aber wieder: Ethikerinnen und Ethiker können alleine keinen Fachkräftemangel lösen. Alles in allem bleibt deshalb die Wirkung von Ethik als Alarmsignal etwas fragwürdig, wenn nicht gleichzeitig präzisiert wird, wer die Macht hat, die benannten Missstände zu ändern.
Prof. Dr. Rouven Porz
Leiter des Bereichs Medizinethik und ärztliche Weiterbildung, Insel Gruppe, Inselspital Bern