Ausufernde Bürokratie – und Massnahmen zu ihrer Bewältigung

Ausufernde Bürokratie – und Massnahmen zu ihrer Bewältigung

Leitartikel
Ausgabe
2023/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21836
Schweiz Ärzteztg. 2023;(19):26-27

Publiziert am 10.05.2023

Bürokratische Zwänge Der zunehmende Verwaltungsaufwand durch immer mehr gesetzliche Vorschriften geht auf Kosten der Konsultationszeit und verschärft den Ärztemangel. Die FMH versucht, diesen unerwünschten Auswirkungen durch spezifische Massnahmen und Vorschläge zu begegnen.
Die tatsächlichen Ursachen für den Anstieg der Gesundheitskosten werden in den Medien nur selten thematisiert, sind aber durchaus bekannt. Es geht darum, eine ausgezeichnete Lebensqualität bis ins hohe Alter aufrechtzuerhalten – die Lebenserwartung in der Schweiz ist weltweit mit am höchsten – und freien Zugang zu medizinischen Leistungen und technischem Fortschritt zu gewährleisten. Darum werden wir übrigens in der ganzen Welt beneidet.
Auch die Gründe warum die Kosten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) – und damit die Prämien - schneller steigen als die allgemeinen Gesundheitskosten verdienen mehr mediale Aufmerksamkeit: Die Verlagerung hin zu ambulanten Behandlungen kommt den Finanzen der Kantone zugute, belastet aber die Prämienzahlenden [1], zudem beruht die Festlegung der Prämien auf Kostenprognosen statt tatsächlicher Kostenentwicklungen, und auch die Anlageergebnisse von Versicherungsreserven auf den Finanzmärkten spielen eine Rolle.
Philippe Eggimann
Dr. med., Vizepräsident der FMH und Departementsverantwortlicher Dienstleistungen und Berufsentwicklung

Gesetzesflut verstärkt staatliche Regulierung

Objektiv betrachtet erfolgt der Kostenanstieg nicht «explosionsartig» [2]. Im Gegenteil nimmt das Kostenwachstum seit etwa 15 Jahren kontinuierlich ab [3]. Trotzdem wird das Argument eines angeblich «explosionsartigen» Kostenanstiegs von den Befürwortern möglichst engmaschiger Regulierungen unermüdlich vorgebracht um immer neue bürokratische Massnahmen zu rechtfertigen. Dabei dienen oft Länder als Vorbild, in denen sich dieses Vorgehen als ineffizient erwiesen hat [4] und die anteilig vom BIP mehr für das Gesundheitswesen ausgeben als die Schweiz [5].
Infolge der Regulierungsbemühen von Politik, Bundesrat und EDI sind die gesetzgeberischen Aktivitäten im Gesundheitswesen unverhältnismässig hoch [6] – und verursachen einen hohen Aufwand ohne dabei die Gesundheitskosten zu reduzieren. Kritik der Akteure des Gesundheitswesens wie der Ärzteschaft an diesen Entwicklungen wird nicht selten abgeschmettert, indem man sie als Profiteure des Kostenanstiegs ohne Veränderungsbereitschaft brandmarkt. Auch die Vorschläge der Stakeholder des Gesundheitswesens werden darum in Teilen des politischen Spektrums mit Argwohn betrachtet.
Derweil sorgen die zunehmenden mikroregulatorischen Verwaltungsmassnahmen für eine langsame und nicht umkehrbare Bürokratisierung unseres Gesundheitssystems und drohen es so zu ersticken. Für den Erhalt einer funktionierenden Gesundheitsversorgung bräuchte es eine Diskussion über den fehlenden Nutzen und die negativen Auswirkungen der zunehmenden Bürokratie auf die Zugänglichkeit und die Qualität der Leistungen. Die Erfahrung im Praxisalltag zeigt, dass die Regulierungen nicht nur ihr Ziel verfehlen, sondern sich zudem in hohem Masse negativ auf die Arbeitsbedingungen der Gesundheitsberufe auswirken. Auch Ärzte und Ärztinnen bezahlen buchstäblich die Rechnung dafür, wenn die Massnahmen ihre Kosten erhöhen, die in den meisten Arztpraxen und medizinischen Zentren bereits mehr als zwei Drittel des Umsatzes ausmachen [7]. Schlimmer noch: Diese Massnahmen reduzieren die Zeit für die Patientinnen und Patienten und verschärfen damit den Ärztemangel, was durch die administrative Verbissenheit der Versicherer bei den Forderungen des Leistungsnachweises noch verstärkt wird. In Deutschland, wo diese Entwicklung schon weiter fortgeschritten ist, beträgt die durchschnittliche Konsultationszeit von Ärztinnen und Ärzten in der Grundversorgung 11,7 Minuten, während es in der Schweiz 21,2 Minuten sind [8]. Derartige Bedingungen dürften die grosse Unzufriedenheit unserer deutschen Kolleginnen und Kollegen erklären und machen die Arbeit der Grundversorger und Spezialisten weniger attraktiv.
Die FMH engagiert sich im politischen Prozess gemeinsam mit vielen weiteren Stakeholdern gegen die zunehmende Mikroregulierung. Gleichzeitig unterstützt sie die Ärzteschaft bei den bürokratischen Prozessen, die ihnen durch die Weiterentwicklung zahlreicher Bundesgesetze und ihrer Verordnungen (SL, KVG, GesBG, MedBG, VVG, UVG, ArG, EpG, COVID-19-G, DSG usw.) auferlegt werden [9], indem sie regelmässig Empfehlungen und Hilfsmittel erarbeitet.
Die Arbeit der Ärzteschaft wird von der Politik überreguliert.
© Pavel Naumov / Dreamstime

Arbeitssicherheit

Ein Beispiel ist die sogenannte «Branchenlösung», bei der es um Massnahmen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes geht. Diese müssen laut UVG in Arztpraxen und medizinischen Zentren getroffen und dokumentiert werden und werden von den Kantonen kontrolliert.
Das Fehlen eines Schutzplans kann dazu führen, dass die UVG-Versicherer die Kostenübernahme für mögliche Arbeitsunfälle und/oder Berufskrankheiten ablehnen. Das Departement Dienstleistungen und Berufsentwicklung der FMH hat einen Katalog von Massnahmen erarbeitet, die in dieser Ausgabe der SÄZ (Seite 28-29) vorgestellt werden. Die für die Umsetzung zuständigen Personen können aus 511 Vorschlägen, die in 17 Kapitel unterteilt sind, diejenigen auswählen, die sie für die Ausarbeitung eines Handbuchs zur Arbeitssicherheit benötigen und den Bedürfnissen ihres Betriebs entsprechen. Eine Software mit Leitfäden vereinfacht diese Auswahl und ermöglicht eine individuelle Anpassung für jede Praxis, insbesondere im Hinblick auf deren Grösse und Tätigkeitsfeld.

Beschränkung der Zulassung

Ein weiteres Beispiel ist der am 1. Juli 2021 in Kraft getretene Art. 55a des KVG und der Verordnung des EDI über die Festlegung der regionalen Versorgungsgrade je medizinisches Fachgebiet im ambulanten Bereich. Nach Ansicht der FMH gefährdet diese realitätsfremde Verordnung die Versorgungssicherheit. Die vorhandene Datengrundlage ist ungenügend und die Methodik muss überarbeitet werden [10]. Ein Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft wies darauf hin, dass die vorliegende Zulassungssteuerung für Ärzte und Ärztinnen einen massiven Eingriff in die Grundrechte darstellt. Es könnte einen Präzedenzfall darstellen und die Kantone dazu verpflichten, ihre Gesetzgebung für eine entsprechende Umsetzung zu ändern [11].

Qualität und Wirtschaftlichkeit

Ähnlich arbeitet das Departement Daten, Demographie und Qualität der FMH an der pragmatischen Umsetzung eines Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskonzepts, das der Ärzteschaft durch den am 1. April 2021 in Kraft getretenen Artikel 58 des KVG auferlegt wurde. Die Umsetzung wurde von den Verbänden der Versicherer wegen einer kurzfristigen Änderung der Qualitätsstrategie durch den Bundesrat abgelehnt. Dieser hatte kurz vor Vertragsabschluss die Rahmenbedingungen massiv verändert und festgelegt, dass diese Entwicklungen bereits Teil der durch die OKP vergüteten Leistungen seien. Es ist jedoch selbstsprechend, dass neue und zusätzliche Qualitätsvorgaben nur umgesetzt werden können, wenn sie auch finanziert werden. [12].

Datenschutz

Im Hinblick auf das Inkrafttreten neuer Bestimmungen des Datenschutzgesetzes (DSG) im September 2023 hat das Departement Digitalisierung / eHealth der FMH der Ärzteschaft Empfehlungen zum Umgang mit sensiblen personenbezogenen Daten im Zusammenhang mit dem Arztgeheimnis bzw. der Haftpflicht zur Verfügung gestellt [13]. Das Departement hat Empfehlungen betreffend die Minimalanforderungen zum IT-Grundschutz ausgearbeitet, die alle Arztpraxen / medizinischen Zentren gewährleisten müssen, um gesetzeskonform zu arbeiten [14]

Die FMH im Dienste ihrer Mitglieder

Diese Beispiele zeigen, wie die FMH und ihre Departemente daran arbeiten, die zahlreichen gesetzlichen Massnahmen umsetzbar zu machen, die den Arztpraxen und medizinischen Zentren immer zeitintensivere Verwaltungsaufgaben auferlegen. Die Bürokratisierung beruht zwar oft auf guten Absichten der Politik, gestaltet sich jedoch praxisfremd. Bei fehlender Finanzierung zusätzlicher Regulierungen steigen die Infrastrukturkosten, während die verfügbare Zeit für die Patienten sinkt und die Auswirkungen des Ärztemangels verschärft werden. Weniger statt mehr neuer Gesetze und Regulierungen wäre darum erfolgversprechender um die Probleme im Gesundheitswesen zu lindern.
1 P Eggimann. Kostensenkung im Rahmen der ambulanten Wende: Kantone profitieren! Schweizerische Ärztezeitung. 2023;103(44):26-27. (https://doi.org/10.4414/saez.2022.21210)
2 N Wille, Y Gilli. Wie stark werden Haushaltsbudgets durch die Prämien belastet? Schweizerische Ärztezeitung. 2022;103(2930):929-931. (https://doi.org/10.4414/saez.2022.20922)
3 Sh. Smith, J Newhouse, G Cuckler. Health Care Spending Growth Has Slowed: Will the Bend in the Curve Continue? NBER National Bureau of Economic Research. 2022, Working Paper 30782 (https://www.nber.org/papers/w30782)
6 Y Gilli. Mengenausweitung der Gesundheitspolitik. Schweizerische Ärztezeitung. 2022;103(41):26-27 (https://doi.org/10.4414/saez.2022.21134)
8 ÄRZTINNEN UND ÄRZTE IN DER GRUNDVERSORGUNG – SITUATION IN DER SCHWEIZ UND IM INTERNATIONALEN VERGLEICH (Seite 20) https://www.obsan.admin.ch/sites/default/files/2023-02/Obsan_01_2023_BERICHT.pdf
9 SL: Spezialitätenliste; KVG: Bundesgesetz über die Krankenversicherung; GesBG: Gesetz über die Gesundheitsberufe; MedBG: Bundesgesetz über die universitären Medizinalberufe; VVG: Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag; UVG: Bundesgesetz über die Unfallversicherung; ArG: Arbeitsgesetz; EpG: Epidemiengesetz; COVID-19-G: Covid-19-Gesetz; DSG: Bundesgesetz über den Datenschutz usw.
10 C Bosshard. «Gut gemeint» ist schlimmer als schlecht. Schweizerische Ärztezeitung. 2023; 104(03):22-23 (https://doi.org/10.4414/saez.2023.21391)
12 C Bosshard. Spielregeln in letzter Minute geändert. Schweizerische Ärztezeitung. 2022;103(17):533. (https://doi.org/10.4414/saez.2022.20740)
13 B Baeriswill, R Sojer. Datenschutzgesetz: Anpassungen in Arztpraxen. Schweizerische Ärztezeitung. 2022;103(5152):32–33. (https://doi.org/10.4414/saez.2022.21291)