Geburt eines Papiertigers

Leitartikel
Ausgabe
2023/2021
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21849
Schweiz Ärzteztg. 2023;(2021):28-29

Publiziert am 17.05.2023

Gesundheitspolitik In dieser Sommersession wird das Parlament seine Arbeit an einem neuen Papiertiger fortsetzen. Dieser Papiertiger wird hungrig sein und einige administrative Ressourcen verschlingen. Zu hoffen bleibt nun, dass er unserem Gesundheitswesen wenigstens keinen grösseren Schaden zufügt.
Mit dem indirekten Gegenvorschlag des Bundesrats zur Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei kommt wieder einmal ein Papiertiger mit wohlklingendem Namen auf das Gesundheitswesen zu. Unter der Überschrift «Für tiefere Prämien – Kostenbremse im Gesundheitswesen» (21.067) lässt sich das Gesetzeswerk in Politik und Öffentlichkeit gut verkaufen. Wer ist schon gegen niedrigere Prämien? Niemand!
Bereits in der nationalrätlichen Diskussion zur Vorlage wurden erneut die gleichen Mythen der Gesundheitspolitik bewirtschaftet, von denen leider immer noch nicht alle wissen, dass sie falsch sind. Die langjährige Wiederholung scheint dank der nicht hinterfragten Aufnahme in die Medien ihre Kraft nicht zu verlieren. Wieder wurden Zahlen falsch zitiert und die fiktive Belastung einkommensschwacher Haushalte mit teurem Standardmodell als Durchschnittswert der gesamten Bevölkerung ausgegeben [1]. Wieder einmal wurde irreführend gegenübergestellt, dass die Prämien prozentual stärker steigen als die Löhne – ohne zu erwähnen, dass 1% der mittleren Prämie 3.74 Franken entspricht, 1% des Medianlohns hingegen 66.65 Franken [2]. Und auch im Vorfeld der Sommersession erhöhten unter anderem Verena Nold und BR Berset den gefühlten Kostendruck: Selektiv wurde die Kostenentwicklung zweier Monate (!) kommuniziert und – obwohl es dafür «zu früh» sei – die Möglichkeit «überdurchschnittlicher Prämienanstiege» in Aussicht gestellt [3], was neue Prämienschock-Schlagzeilen befeuerte.
Yvonne Gilli
Dr. med., Präsidentin der FMH

Gute Politik gegen böses Kartell?

Mit den Drohkulissen werden meist auch vermeintliche Schuldige und angebliche Auswege präsentiert. So betonte Berset «Wenn wir nicht alle am gleichen Strick ziehen, bekommen wir die Gesundheitskosten nicht in den Griff» und forderte damit indirekt Unterstützung für seine Vorlagen ein. Im «Parlament hätten es kostendämpfende Massnahmen schwer, weil sich die vielen Akteure oft gegenseitig schützten» [3]. Dass sich die gesundheitspolitischen Vorstösse seit 2000 verfünffacht und die Seiten des KVG mehr als verdoppelt haben, verschwieg er. Stattdessen bediente er das Bild eines hehren Kampfes der Politik gegen ein ewig blockierendes «Gesundheitskartell», dem es nicht etwa um eine funktionierende Patientenversorgung geht, sondern ums «Geld zählen», wie es Gerhard Pfister jüngst formulierte [4].
Der neueste Papiertiger des Parlaments ist hungrig.
© Ekaterina79 / Dreamstime

Kostenpolemik und Kostenbremse

Neben der Kostenpolemik verleiht auch die ungemütliche Situation der Mitte-Partei dem indirekten Gegenvorschlag des Bundesrats Rückenwind. Die Mitte hat mit ihrer Kostenbremse-Initiative Bersets Kostenzielen einen Steilpass geliefert, wie es Felix Huber kürzlich in einer sehr lesenswerten Analyse ausdrückte [5]. Dank der Initiative konnte das EDI die Kostenziele des zweiten Kostendämpfungspakets, die in der Vernehmlassung breit abgelehnt worden waren, in einen indirekten Gegenvorschlag giessen [6]. Und weil der Mitte-Partei bei einer Abstimmung ihrer Kostenbremse-Initiative ein peinlicher Misserfolg droht, braucht sie diesen Gegenvorschlag, um ihre Initiative ohne Gesichtsverlust zurückziehen zu können.

Kein Nutzen, aber reduzierter Schaden

Angesichts dieser schwierigen Ausgangslage kann das Schweizer Gesundheitswesen fast froh sein, dass der indirekte Gegenvorschlag im Parlament von einem nutzlosen Papiertiger mit enormen Schadenspotenzial wenigstens zu einem nutzlosen Papiertiger mit reduziertem Schadenspotenzial geworden ist. Der ursprüngliche Gegenvorschlag des Bundesrats forderte noch klassische staatliche Planwirtschaft: Der Bund sollte jährlich detaillierte Kostenziele für alle Kantone und Leistungsblöcke festlegen. Überschreitungen sollten vor allem mit staatlichen Tarifsenkungen geahndet werden. Eine «planerische Gross-Illusion» ohne Datengrundlage [5], die das Fürchten lehrt, wenn man weiss, wie dramatisch sich der Bundesrat bereits bei den Ärztezahlen verrechnet hat [7].
Im parlamentarischen Prozess wurde die bundesrätliche Vorlage diesbezüglich verbessert: Die Kostenziele des Bundesrats wurden zunächst ganz abgelehnt [8], im Nationalrat dann aber von einer knappen Mehrheit aus SP, Grünen und Mitte im Gegenvorschlag verankert. Neu sollen sie aber nur noch übergreifend und alle vier Jahre festgelegt werden – und ohne Sanktionen im Fall von Überschreitungen [9]. Verschlechterungen erlebte die Vorlage bei anderen Inhalten: So ergänzten die Linke und die Mitte neue Qualitätsziele einschliesslich zuständiger Kommission. Wie sich diese zu dem erst 2019 beschlossenen Qualitätsgesetz samt Zielen und neu geschaffener Kommission verhalten, ist völlig unklar.
Auch die neuen behördlichen Tarifkompetenzen der bundesrätlichen Vorlage erweiterte das Parlament mit fragwürdigen Argumenten. Bersets Anliegen, dass Behörden nicht nur jederzeit Tarifanpassungen fordern und nach einem Jahr selbst vornehmen können, wurde um «differenzierte Tarife» ergänzt: Behörden sollen die Vergütung einzelner Positionen, Fachgruppen oder Regionen festsetzen können. Zusätzlich wurde für Laboranalysen Vertragsfreiheit gefordert, was Arztpraxen einen administrativen Overkill und Patientinnen Zusatzkosten bescheren würde. Diese Forderung wird sich aber wohl nicht durchsetzen können.

Absehbare Auswirkungen

Aktuell lässt der Gegenvorschlag erwarten, dass im Bundesamt für Gesundheit neue Mitarbeitende ohne belastbare Datengrundlage fiktive Kostenziele berechnen werden. Auch die Akteure des Gesundheitswesens werden Expertinnen benötigen, um sich bei den geplanten Anhörungen einbringen und die Zahlen prüfen zu können. All das macht unsere Versorgung weder günstiger noch besser, bläht aber die Verwaltung weiter auf.
Im Qualitätsbereich würden weitere Ziele und eine zweite Kommission das Chaos wohl perfektionieren: Bereits die nun seit 2021 etablierte erste Qualitätskommission und 4-Jahres-Ziele bereiten den Akteuren bislang enormen Aufwand. Durch die neue Zulassungsverordnung mit Qualitätsanforderungen wurden zusätzlich die Kantone involviert. Die Schaffung eines dritten Prozesses dürfte die Qualitätsaktivitäten im Gesundheitswesen definitiv erschweren, wenn nicht blockieren.

Unwägbare Tarifkompetenzen

Aktuell unwägbar sind die Auswirkungen der neuen Tarifkompetenzen, da die Grenzen der neuen Behördenbefugnisse nicht klar gefasst wurden. Es muss sichergestellt sein, dass auch für die Behörden weiterhin die Kriterien der Betriebswirtschaftlichkeit und Sachgerechtigkeit bindend sind, damit der Tarif eine qualitativ hochstehende und zweckmässige Versorgung erlaubt. In diesem Fall wären Behördeneingriffe bei erheblichem Anpassungsbedarf nach angemessener Frist konform mit dem Tarifrecht. Würde hier hingegen ein Einfallstor für politisch motivierte Tarifeingriffe geschaffen, würden unwirtschaftlichen Tarifen sehr schnell Versorgungsprobleme folgen. Wie hart es Patienten und ihre Familien treffen kann, wenn ein Gesetz zu viel Spielraum für eine schlechte Umsetzung lässt, zeigten erst kürzlich die eingeschränkten IV-Leistungen für Kinder mit Geburtsgebrechen. Das Parlament sollte darum hier noch Klarheit schaffen.

Kein Problem gelöst

Der politische Druck alles gutzuheissen, wo «Kostendämpfung» draufsteht, ist gross. Dennoch sollte man nicht nur am gleichen Strick ziehen, sondern auch in die richtige Richtung. Dieser Papiertiger kann unser Gesundheitswesen nun zwar nicht mehr per Planwirtschaft zerfleischen und es darf gehofft werden, dass sein Gehege bei den tarifarischen Kompetenzen noch klar abgesteckt wird. Er wird seine Versprechungen aber auch nicht einlösen können: Der indirekte Gegenvorschlag des Bundesrats wird weder Kosten dämpfen noch Prämienzahlende entlasten. Stattdessen wird er das Gesundheitswesen weiter bürokratisieren und schwerfälliger machen – wie bereits viele Gesetze zuvor.
1 Wille N, Gilli Y. Wie stark werden Haushaltsbudgets durch die Prämien belastet? Schweiz Ärzteztg. 2022;103(2930):929-931; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.20922
2 Wille N, Gilli Y. Wie beeinflusst die Prämienentwicklung die verfügbaren Einkommen? Schweiz Ärzteztg. 2022;103(35):1070-1072; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.21009
3 Blick, 30.04.2023, Berset über Krankenkassen. Höhere Prämien nicht ausgeschlossen; URL: https://www.blick.ch/politik/berset-ueber-krankenkassen-hoehere-praemien-nicht-ausgeschlossen-id18533838.html
4 Gerhard Pfister in der Nationalratsdebatte der Sommersession 2022; Zweite Sitzung 31.05.22; URL: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=56999
5 Felix Huber auf Medinside, 4.4.23, Pfisters Bremsentrick ist ein Steilpass für Bersets Kostenzielplan; URL: https://www.medinside.ch/pfisters-bremsentrick-ist-ein-steilpass-fuer-bersets-kostenzielplan-20230404
6 Medienmitteilung BAG vom 10.11.2021, Bundesrat lehnt Kostenbremse-Initiative ab und verabschiedet Gegenvorschlag; URL: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/aktuell/medienmitteilungen.msg-id-85812.html
7 Wille N, Gilli Y. Ärztemangel: Nicht nur die Energie kommt aus dem Ausland. Schweiz Ärzteztg. 2023;103(0102):30-32; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2023.21366
8 Medienmitteilung SGK-N vom 8.4.2022 Keine Kostenzielvorgabe im Gesundheitswesen; URL: https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-sgk-n-2022-04-08.aspx
9 SDA-Meldung, 1.6.2022; Gesundheitskosten - Nationalrat will Prämienanstieg mit Kostenzielen bremsen; URL: https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2022/20220601084615684194158159038_bsd046.aspx