Die Macht der Worte

Die Macht der Worte

Coverstory
Ausgabe
2023/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.22064
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(37):12-16

Publiziert am 13.09.2023

Medizinische Hypnose Positive Suggestionen können Patientinnen und Patienten Schmerzen und Ängste nehmen, ihr Wohlbefinden steigern und ihre Selbstheilungskräfte aktivieren. Eine Anästhesistin, ein Psychiater, eine Kinderärztin und ein Hausarzt geben Einblick.
Das Schlimmste ist vorbei. Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus, wo schon alles vorbereitet wird. Ihr Körper kann sich ganz auf seine Selbstheilungskräfte konzentrieren, während Sie sich jetzt ganz geborgen fühlen. Lassen Sie alle Organe, Ihr Herz, Ihre Blutgefässe, sich selbst in einen Zustand versetzen, der Ihr Überleben sicherstellt. Bluten Sie gerade so viel wie nötig ist, um die Wunden zu reinigen, und lassen Sie dann Ihre Gefässe sich von selbst so weit schliessen, dass Ihr Leben gesichert ist. Ihre Körperfunktionen, Ihre Körpertemperatur, alles wird optimal aufrechterhalten, während im Krankenhaus schon alles für Ihre optimale Versorgung hergerichtet wird. Wir bringen Sie so schnell und sicher wie nur möglich dorthin. Sie sind jetzt in Sicherheit. Das Schlimmste ist vorbei.»
Diesen Text sollten Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter Unfallopfern vorlesen, selbst wenn diese bewusstlos waren – wiederholt und mit ruhiger Stimme. Weiter waren sie angehalten, Patientinnen und Patienten möglichst rasch vom Unfallort wegzubringen und weder belanglose noch negative Konversationen mit ihnen zu führen. Das war die Versuchsanlage im sogenannten Kansas-Experiment, das der US-amerikanische Psychiater Erik Wright 1976 durchführte. Es zeigte auf, wie mächtig sogenannte therapeutische Suggestionen sind – also Botschaften, die die Gesundheit und den Heilungsverlauf positiv beeinflussen sollen. In der Gruppe des Rettungspersonals, das diese Vorgaben erhielt, erreichten mehr Patientinnen und Patienten das Krankenhaus lebend, es überlebten insgesamt mehr, und die Überlebenden waren auch schneller wieder gesund als in der Kontrollgruppe, wo das Rettungspersonal diese Instruktionen nicht erhalten hatte [1].
Studien zeigen, dass das gesprochene Wort bei der medizinischen Behandlung für Patientinnen und Patienten von grosser Bedeutung sein kann.
© Monkey Business Images / Dreamstime

Weniger Schmerzen nach Operationen

Auch jüngere Studien bestätigen die Macht von Worten auf Körper und Gesundheit. Etwa die deutsche Multicenter-Studie, die ein Team von Forschenden um Hartmuth Nowak vom Universitätsklinikum Bochum und Nina Zech von der Universitätsklinik Regensburg durchführte und mit dem Förderpreis der Deutschen Schmerzgesellschaft ausgezeichnet wurde. Die Resultate erschienen 2020 im Fachmagazin British Medical Journal [2]. Teilgenommen hatten rund 400 Patientinnen und Patienten, die während mindestens einer Stunde unter Vollnarkose operiert worden waren. Rund die Hälfte von ihnen erhielt während der Operation über einen Kopfhörer therapeutische Suggestionen mit positiven und unterstützenden Worten abgespielt, hinterlegt mit Musik. Auch die Kontrollgruppe erhielt einen MP3-Player und Kopfhörer, doch bei ihnen wurde nichts abgespielt.
Es zeigte sich: Patientinnen und Patienten, die therapeutische Suggestionen erhielten, hatten nach dem Eingriff weniger Schmerzen und benötigten deutlich weniger Schmerzmedikamente.

Einfach und sicher

«Das eröffnet eine neue Dimension in der medizinischen Behandlung», sagt Ursula Speck, Oberärztin an der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Rettungs- und Schmerzmedizin des Kantonsspitals St. Gallen (KSSG). «Die Medizinische Hypnose ist eine einfache, kostengünstige, nebenwirkungsfreie und sichere Methode, um den Patientenkomfort zu steigern und den Medikamentenbedarf zu senken.» Überrascht ist Speck nicht von solchen Studienresultaten: Sie ist im Vorstand der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Hypnose (SMSH) und setzt am Schmerzzentrum des KSSG seit fast 20 Jahren Medizinische Hypnose ein. «Wir verfügen heute über eine Vielzahl von medikamentösen und interventionellen Methoden, aber die Medizinische Hypnose erlaubt uns, mit ganz einfachen Mitteln einen positiven Einfluss auf das Befinden unserer Patientinnen und Patienten zu nehmen», sagt sie.
Die SMSH definiert Hypnose als eine Kommunikationsform auf verbaler und nonverbaler Ebene, die Patientinnen und Patienten dabei hilft, in verschiedene Formen von Trancen zu gelangen. Trancen wiederum sind veränderte Bewusstseinszustände, die sich vom Alltagsdenken unterscheiden und in denen die Aufmerksamkeit nach innen und auf die eigene Wahrnehmung gerichtet wird. «In diesem Zustand sind Patientinnen und Patienten besonders empfänglich für Suggestionen», sagt Speck. «Das können wir nutzen, um die Wahrnehmung von Schmerzen zu verändern und den Betroffenen zu einem erträglicheren Körpergefühl zu verhelfen.»

Verletzlicher Zustand

Im medizinischen Kontext befinden sich Patientinnen und Patienten gemäss Speck oftmals ohnehin in einem Trancezustand: «Eine medizinische Behandlung, insbesondere in einem Notfall, stellt eine Ausnahmesituation dar, in welcher der Mensch in einen spontanen Trancezustand geht und daher besonders suggestibel und verletzlich ist. Deshalb ist es so wichtig, unsere Worte sorgsam zu wählen.»
Speck begleitet beispielsweise Patientinnen und Patienten, die an chronischen Schmerzen, Angststörungen oder psychosomatischen Beschwerden wie Reizdarmsyndrom leiden. Sie unterstützt auch stationäre Patientinnen und Patienten. Oft bereitet sie etwa schwangere Mütter auf eine weitere Geburt vor, wenn sie aufgrund schlechter Erfahrungen grosse Angst davor haben. Einmal hatte sie einen Patienten, der an einer Trigeminusneuralgie litt – chronischen Schmerzen eines Gesichtsnervs. In Trance erinnerte er sich daran, wie sich die weichen Nüstern seines Pferdes auf dieser Wange anfühlten, wenn er das Tier begrüsste. Indem er diese Körpererinnerung wieder wachrief, dieses angenehme Gefühl auf seiner Haut wieder erlebte, konnte er das Körpergefühl der Trigeminusneuralgie mit der Zeit zum Positiven verändern.
«In Trance kann man die Wahrnehmung zum Beispiel ganz bewusst auf einen Teil des Körpers fokussieren, der sich gut anfühlt, oder den Körper für eine Weile ganz verlassen und mit der Fantasie an einen sicheren Ort reisen, wo man sich entspannen kann», sagt Ursula Speck. Das brauche ein gewisses Mass an Sprachverständnis und Vorstellungskraft, doch könnten 80 Prozent aller Menschen Trance gut erleben, 10 Prozent sogar sehr gut. «Nur etwa 10 Prozent aller Menschen sind nicht trancefähig – für sie ist Hypnose nicht die richtige Therapiemethode.»

Hypnose-Ausbildung in der Schweiz

Hypnosetherapeut ist kein geschützter Beruf. Vom Schweizerischen Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) anerkannt ist der Fähigkeitsausweis Medizinische Hypnose [3], den die Schweizerische Ärztegesellschaft für Hypnose (SMSH) [4] anbietet. Voraussetzung für den Fähigkeitsausweis ist ein Facharzttitel der FMH. Ärztinnen und Ärzte in der Ausbildung oder ohne Facharzttitel erhalten ein Zertifikat.
Enge Kooperationspartner der SMSH sind die Gesellschaft für klinische Hypnose und Hypnotherapie Schweiz (ghyps) [5] sowie das Institut Romand d’Hypnose Suisse (irhys) [6]. Diese wie die SMSH Mitglieder der Internationalen Gesellschaft für Hypnose (ISH) sind und sich deren ethischen Richtlinien verpflichten.
Auch für diplomierte Pflegefachkräfte in Medizin und Zahnmedizin bieten die drei Fachgesellschaften Aus- und Weiterbildungen in hypnotischer Kommunikation an, welche mit einem Zertifikat abgeschlossen werden.
Ausbildungen und Workshops in Hypnose und hypnotischer Kommunikation bietet auch der Verein hypnose gesellschaft schweiz (hygs) [7] an. Er wurde 2021 von ehemaligen SMSH-Mitgliedern gegründet, die den Fähigkeitsausweis für Medizinische Hypnose auch weiteren Gesundheitsberufen zugänglich machen wollten, wie beispielsweise Osteopathinnen, Physiotherapeuten oder Pflegefachkräften.

Das Erleben steht im Zentrum

Ärztekolleginnen und -kollegen seien oftmals skeptisch, manche würden über die «magic medicine» scherzen. «Was Hypnose für manche suspekt macht, ist die Tatsache, dass wir mit Suggestionen arbeiten», sagt Speck. «Man assoziiert damit Manipulation oder denkt an Marketingstrategien und politische Debatten. Für viele ist schwer vorstellbar, wie wir das in einem therapeutischen Kontext einsetzen.»
«Es gibt viele falsche Vorstellungen über Hypnose», sagt auch Ulrich Geissendörfer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit eigener Praxis in Baden-Dättwil und wie Speck im Vorstand der SMSH. «Im Gegensatz zum Film, in welchem jemand mit den Fingern schnippt und man ist in Trance, braucht es in der Realität immer die Bereitschaft der Patientin oder des Patienten. Letztlich ist jede Hypnose in gewissem Sinn eine Selbsthypnose.» Geissendörfer selbst kam per Zufall zur Hypnose: Vor knapp zehn Jahren sei ein Flyer der SMSH auf seinem Schreibtisch gelandet, als er gerade seine jährlichen Weiterbildungen plante. So habe er sich zur Grundausbildung für Ärztinnen und Zahnärzte angemeldet (siehe Kasten).
Zunächst sei er skeptisch gewesen. «Als Verhaltenstherapeut lernte ich strukturiert klare Richtlinien und Strategien, die ich einsetze. Bei der Medizinischen Hypnose ist es anfangs schwammig und diffus. Es gibt zwar einen Fähigkeits- und Wissensanteil, aber das Wesentliche ist das Erleben – und das lässt sich schwer in einem Lehrbuch vermitteln.»
So seien es dann die konkreten Übungen gewesen, die ihn überzeugt hätten: «Zu meinem eigenen Erstaunen habe ich gemerkt: Es funktioniert und hat einen angenehmen und überraschend deutlichen Effekt.» Seither setzt er die Hypnose in seiner Praxis ein, beispielsweise bei Patientinnen und Patienten mit Depressionen, Angststörungen oder psychosomatischen Beschwerden. Wobei er betont: «Medizinische Hypnose besteht nicht ausschliesslich darin, Patientinnen und Patienten in Trance zu begleiten. Vielmehr ist Medizinische Hypnose ein Psychotherapieverfahren mit diversen Elementen und eine besondere Art der therapeutischen Beziehungsgestaltung.»
Insbesondere bei psychosomatischen Beschwerden und affektiven Reaktionen, die schwer in Worte zu fassen sind, habe die Medizinische Hypnose seine therapeutischen Möglichkeiten wesentlich erweitert, sagt Geissendörfer: «In Trance haben Patientinnen und Patienten oftmals einen Zugang zum eigenen Innenleben, welchen sie sonst nicht haben. Sie können erleben, wie ihr jetziges Befinden mit früheren Erfahrungen zusammenhängt. Diese Verknüpfungen kann man in Trance viel effizienter erkennen und bearbeiten als im üblichen therapeutischen Gespräch.»
Allerdings sei es wichtig, die Erwartungen vor Therapiebeginn zu klären: «Medizinische Hypnose ist ein fantastisches Instrument, das sehr viel bewirken kann. Manche haben jedoch zu hohe Erwartungen. Wie bei jeder anderen medizinischen Behandlung ist daher eine sorgfältige Aufklärung über Möglichkeiten und Grenzen selbstverständlich.»

Die Realität entsteht in unseren Köpfen

«Die Hypnose hat mein Leben verändert», sagt Claire-Anne Siegrist, Fachärztin für Pädiatrie und Infektiologie. Bis zu ihrer Pensionierung Anfang 2023 arbeitete sie als leitende Ärztin am Universitätsspital Genf (HUG) und als Professorin an der Universität Genf. Sie entdeckte die Hypnose für sich, als sie 2016 an Polyneuritis erkrankte – einer schmerzhaften Nervenkrankheit in den Beinen, die sie in den Rollstuhl brachte. «Die Hypnose hat mir geholfen, unerträgliche Schmerzen zu lindern», sagt sie. Heute könne sie wieder von ihrem Rollstuhl aufstehen. Und wenn sie sich vorstelle, dass sie ihre Füsse in einen Bergsee halte, spüre sie die wohltuende Kühle, und wie die Schmerzen in Füssen und Beinen nachlassen. «Unser Gehirn ist unglaublich mächtig», sagt sie. «Die Realität entsteht in unseren Köpfen: Wir erleben das, was unser Gehirn aus unseren Wahrnehmungen macht. Denselben Reizen ausgesetzt, erleben unterschiedliche Menschen etwas anders. Das eröffnet unendlich viele Möglichkeiten.»
Als Patientin wurde ihr bewusst, wie empfindlich die Worte von Ärztinnen und Pflegenden einen treffen können, wenn sie nicht sorgfältig gewählt sind. In der Folge rief sie am HUG gemeinsam mit der Anästhesistin Adriana Wolff ein Programm für Klinische Hypnose ins Leben. Inzwischen werden sowohl das Pflegepersonal als auch alle Ärztinnen und Ärzte des Spitals in hypnotischer Kommunikation geschult. «Hypnose bedeutet, dass wir unsere Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt stellen und dass wir die richtigen Worte wählen», sagt Siegrist. «Im Spitalalltag erlaubt sie uns, mit vielen Problemen unserer Patientinnen und Patienten anders umzugehen, sodass sie entspannter sind und weniger Schmerzen und Ängste haben.» Beim Verabreichen einer Spritze etwa sollte man nicht sagen: «Es gibt jetzt einen Stich, es tut nur ein bisschen weh», denn oft hören Patienten dann nur «Stich» und «weh». Besser sei es, beispielsweise zu sagen: «Es kann sein, dass Sie etwas spüren, aber Sie werden das gut aushalten.» Bei Kindern könne man zum Beispiel den Landeplatz für einen Schmetterling vorbereiten und sie dann während der Impfung nach den Farben des Schmetterlings fragen, der da gelandet ist. «Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, und Kinder sind schnell in ihrer Welt», sagt Siegrist. «Wenn wir uns auf sie einlassen, können wir sie gut von Schmerz und Angst wegführen.» Auch nach ihrer Pensionierung setzt die Ärztin ihr Engagement fort und begleitet Kinder und Jugendliche mit Medizinischer Hypnose – nicht mehr am Universitätsspital Genf, sondern an der Klinik der Genfer Gemeinde Carouge.

Sich Zeit nehmen

«Hypnose ist eine Kommunikationsform, die uns eigentlich bei fast allem unterstützen kann», sagt Nicolas Huber. Der Facharzt für allgemeine innere Medizin ist Hausarzt in einer Gruppenpraxis in Oberurnen und engagiert sich im Vorstand des Vereins Hypnose Gesellschaft Schweiz (hygs), der sich 2021 von der SMSH abspaltete. Wenn Patientinnen und Patienten ihn gezielt danach fragten, begleite er diese manchmal mit Hypnose, etwa bei chronischen Nacken- oder Kopfschmerzen oder bei Schlafstörungen. «In 90 Prozent meiner Zeit arbeite ich allgemeinmedizinisch und habe da einen Takt von 15 Minuten, maximal 30 Minuten pro Person. Für Hypnose brauche ich eine Stunde. Es ist angenehm, so manchmal aus dem rasenden Rhythmus rauszukommen.»
Vor allem aber habe er seine Kommunikation mit Patientinnen und Patienten verändert, seit er vor gut zehn Jahren die SMSH-Ausbildung in Medizinischer Hypnose abschloss: «Es ist eine Grundhaltung, die meine ganze Arbeit beeinflusst, die Art und Weise, wie ich auf die Leute zugehe, mit ihnen spreche.» So habe er beispielsweise früher rein faktenbasiert gesprochen, wenn er eine Krebsdiagnose überbringen musste. «Heute weiss ich, dass die Betroffenen dann in einer angsterfüllten Trance sind, aus der ich sie abholen muss.» Er halte es nicht für nötig, dass alle Ärztinnen und Ärzte Medizinische Hypnose anwenden. «Aber wir alle sollten daran arbeiten, wie wir mit unseren Patientinnen und Patienten sprechen und wie wir ihnen gegenübertreten.»
In einem Folgetext wird die Autorin ihre Erfahrungen schildern, die sie an einem SMSH-Weiterbildungstag zu Medizinischer Hypnose und Schmerz gemacht hat.