Weg vom Schmerz

Weg vom Schmerz

Hintergrund
Ausgabe
2023/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.22128
Schweiz Ärzteztg. 2023;104(38):12-15

Publiziert am 20.09.2023

Medizinische Hypnose Im ersten Teil des Artikels hat unsere Autorin dargelegt, wie Medizinische Hypnose die Kraft positiver Suggestionen nutzt. Im zweiten Teil besucht sie einen Weiterbildungskurs zu Hypnose und Schmerz. Ein Erfahrungsbericht.
Ich schliesse meine Augen und lausche der Stimme, die mich einlädt, meinen Atem ruhig werden zu lassen. Meine Aufmerksamkeit nach innen zu richten, einzutauchen in meine eigene innere Welt von Gefühlen und Bildern. Bei jedem Ein- und jedem Ausatmen ein bisschen tiefer in meinen Stuhl zu sinken, in einen Zustand der Ruhe und Entspannung. Mich zu entspannen fällt mir zunächst etwas schwer, ich fühle mich beobachtet, ausgestellt: Im Halbkreis um mich sitzen zwölf Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen. Sie sind wie ich heute in diesen Seminarraum im solothurnischen Balsthal gekommen, um einen ganztägigen Weiterbildungskurs der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Hypnose (SMSH) [1] zu besuchen.
Anders als ich haben alle bereits die viertägige Grundausbildung [2] der SMSH abgeschlossen. Thema heute ist Hypnose und Schmerz. Neben einem Theorieteil stehen Erfahrungsaustausch und Übungen in Kleingruppen auf dem Programm. Dabei können die Kursteilnehmenden verschiedene Hypnosetechniken selbst anwenden. Und eine Demonstration, für die ich mich freiwillig gemeldet habe.
Ursula Speck: «Menschen mit chronischen Schmerzen fokussieren oft sehr stark auf ihren Schmerz.»
© Somsak Nitimongkolchai / Dreamstime

Energie in den Schmerz fliessen lassen

Ziel der Intervention: in Trance Energie aus einem starken Körperteil in einen schwachen oder schmerzenden Teil des Körpers fliessen lassen. Im vorbereitenden Gespräch hat mich Kursleiterin Ursula Speck gefragt, was ich als schwachen, was als starken Körperteil empfinde und weshalb. Als Problemzone sehe ich meinen oberen Rücken, der unter zu wenig Bewegung und Sport und zu viel Schreibtischarbeit leidet. Letztes Jahr hatte ich über Monate hinweg so starke Schmerzen, dass ich eine Weile lang Schmerzmittel nehmen musste. Dank Physiotherapie, kräftigenden Übungen und der Investition in ein Stehpult bin ich inzwischen wieder schmerzfrei. Aber die Angst, dass der Schmerz zurückkehren könnte, ist geblieben. Als stark empfinde ich meine Hände, die mir Kontakt ermöglichen, mit denen ich fühlen, berühren, trösten, beruhigen, etwas erschaffen kann.

Kraftvolle Hände

Nun sitze ich also vor der Gruppe auf einem Stuhl, mit geschlossenen Augen, und lausche der Stimme von Ursula Speck, die mich einlädt, die Aufmerksamkeit zu meinen Händen zu lenken, die auf meinen Oberschenkeln liegen. Zu spüren, wie sie sich gerade anfühlen. Und dann Bilder, Situationen auftauchen zu lassen, in denen ich sie brauche. Und während die Stimme weiter von meinen Händen spricht, davon, wie wichtige Dienste sie mir leisten, taucht meine fünfjährige Tochter vor meinem inneren Auge auf. Ich fahre mit meinen Händen durch ihr feines Haar, streiche über ihre Wange. Dann sehe ich uns auf der Dachterrasse, wie wir Minzen- und Melissenzweige für Tee abschneiden, spüre die heisse Luft um uns herum, wie eine Heuschrecke in meiner Hand kitzelt, bevor sie wieder davonhüpft. Ich sehe, wie meine Hände Stoff zur Nähmaschine führen, fühle den rauen Jeansstoff unter meinen Fingern.
Als die Stimme mich einlädt, wahrzunehmen, was für wunderbare, kraftvolle, sanfte und starke Fähigkeiten meine Hände haben, mich fragt, wie ich das spüren kann, spüre ich Wärme; Wärme in meinen Händen, die sonst oftmals kalt sind und die ich manchmal selbst im Sommer an einer Tasse Tee aufwärmen muss. Es fühlt sich gut an.
Als ich diese Wärme dann aber in meinen Rücken übertragen soll, indem ich meine Hände auf die Schultern lege, gelingt mir das nicht. Während ich verschiedene Positionen ausprobiere, um die Hände auf meine Schultern zu legen, werden mir der Raum um mich herum und die vielen Zuschauer wieder peinlich bewusst. Auch als ich eine halbwegs bequeme Position gefunden habe, spüre ich weiterhin nur die Wärme meiner Hände, und separat davon meinen Rücken. Als die Stimme mich schliesslich einlädt, langsam wieder in diesen Raum, in diese Runde zurückzukehren und die Augen aufzumachen, habe ich nicht das Gefühl, dass ich überhaupt weit weg war oder von weit her zurückkehren muss.

Fokus vom Schmerz weglenken

Es beruhigt mich zu erfahren, dass es einer Kursteilnehmerin ähnlich erging, als sie im Grundkurs für eine Demonstration nach vorne sitzen musste; dass auch sie Mühe hatte, wirklich einzutauchen in die Trance. Ursula Speck erklärt, es sei viel verlangt, ohne Hypnoseerfahrung vor Publikum in eine tiefe Trance einzutauchen. «Wenn du meine Patientin wärst, hätte ich gesagt: Es ist das erste Mal und es ist ganz normal, dass da noch ein Teil von dir ist, der beobachtet, mit aufpasst und checkt: Ist das hier alles sicher?» Als Fachärztin für Anästhesie habe sie auch schon oft festgestellt, dass es insbesondere Müttern von jungen Kindern schwerfalle, die Kontrolle ganz abzugeben – und dass bei diesen manchmal höhere Dosen an Medikamenten notwendig seien, um sie in Vollnarkose zu versetzen.
Speck ist Oberärztin am Schmerzzentrum des Kantonsspitals St. Gallen, und die demonstrierte Übung setzt sie oft am Anfang einer Therapie ein, um das Bewusstsein zu vermitteln, dass der Körper nicht nur aus dem problematischen Körperteil besteht. «Menschen mit chronischen Schmerzen fokussieren oft sehr stark auf ihren Schmerz. Da ist die Erinnerung daran, dass es auch noch starke Körperteile gibt, oft schon eine wichtige Erfahrung.»

Aktive Mitarbeit gefragt

Um chronische Schmerzen mithilfe von Hypnose zu reduzieren oder die Schmerzwahrnehmung erfolgreich zu verändern, sei eine aktive Mitarbeit der Patientinnen und Patienten notwendig. «Manche kommen mit einer passiven Erwartungshaltung nach dem Motto: Frau Doktor, erlösen Sie mich von dem Problem!», sagt Speck. «Es ist unrealistisch zu erwarten, dass Beschwerden, die schon lange bestehen, einfach weghypnotisiert werden können. Aber ich kann Menschen mit chronischen Schmerzen dabei unterstützen, ihren Körper wieder anders wahrzunehmen.»
Im Theorieteil erklärt die zweite Kursleiterin Eva-Maria Albermann, die als Oberärztin an der Psychiatrie St. Gallen auch sehr oft mit Schmerzpatienten arbeitet, dass es im Gehirn kein explizites Schmerzzentrum gibt. Dass das Gehirn nicht nur passiver Empfänger ist, sondern dass Schmerz durch das Zusammenwerken verschiedener neuronaler Netzwerke entsteht.
Grundsätzlich, so erfahren wir, bietet die Hypnose zwei unterschiedliche Möglichkeiten, mit Schmerzen umzugehen. Beim assoziativen Zugang geht man in den Schmerz hinein, fokussiert darauf, wo genau es weh tut, wie es sich anfühlt. Und dann arbeitet man daran, den Schmerz umzugestalten, anders wahrzunehmen, oder ihn mit Metaphern oder Symbolen zu verwandeln.
Beim dissoziativen Zugang geht man vom Schmerz weg und versucht, den Fokus möglichst davon wegzulenken. Beispielsweise, indem man mental an einen Ort oder in eine Zeit reist, wo es einem gut geht, wo sich der Körper angenehm anfühlt. Oder eben an einen anderen Ort im Körper, der nicht schmerzt.
Bei akutem Schmerz können Atemtechniken helfen. So gibt es beispielsweise die Staudamm-Atmung, bei der man tief einatmet und die Luft wie bei einem Staudamm zurückhält, um sie dann langsam auszustossen während eines schmerzhaften medizinischen Eingriffs – beispielsweise, während ein Katheter gezogen, eine Infusion gesteckt oder ein Pflaster oder ein Verband entfernt werden.

Feuer- und Staudamm-Atmung

«Man kann etwas spielen mit diesen Atemtechniken», sagt ein pensionierter Zahnarzt in der Diskussionsrunde, in der die Anwesenden ihre Erfahrungen austauschen können. «Je nach Länge des schmerzhaften Eingriffs kann man eine unterschiedliche Atem-Variante einsetzen.» Die Staudamm-Atmung habe er jeweils genutzt, um seine Kinder gegen Grippe zu impfen: «Das gibt einem relativ viel Zeit und man kann injizieren, bis das letzte Wassertröpfchen aus dem Stausee gekommen ist.» Bei kürzeren Interventionen habe er gute Erfahrungen gemacht mit der sogenannten Feuer-Atmung, bei der man ähnlich einem Feuerschlucker einmal schnell und kräftig den Atem ausstosse. Er habe seine Patientinnen und Patienten jeweils so atmen lassen, wenn er bei ihnen eine Anästhesie im Gaumen machte: Weil dort wenig Platz sei und man relativ viel Druck anwenden müsse, sei das ziemlich schmerzhaft. Die Feuer-Atmung habe sich dabei zur Schmerzlinderung bewährt.

Keine einheitliche Regelung

Eine Rheumatologin, ein Infektiologe, ein Hausarzt und eine Hausärztin sagen alle, dass sie seit ihrer Grundausbildung in Hypnose bewusster kommunizieren, ihre Worte gezielter auswählen. Dass sie aber meist nicht offen kommunizieren, dass sie Hypnose anwenden, und es entsprechend auch nicht speziell verrechnen.
«Ich finde es schade, wenn sich Ärztinnen und Ärzte schämen zu sagen, dass sie Hypnose machen», sagt eine Fachärztin für Innere Medizin und Kardiologie, die kürzlich eine eigene Praxis für Hypnosetherapie eröffnet hat. Wer zu ihr kommt, muss die Rechnung selbst bezahlen: Während Psychiater und Allgemeinmediziner medizinische Hypnose unter dem Taxpunkt «psychologische Beratung» abrechnen könnten, sei ihr das nicht möglich: «Ich bin Kardiologin, keine Psychiaterin.» Speck ergänzt, dass einige Krankenkassen bereits einen Teil der Kosten übernehmen, dass es aber bisher keine einheitliche Regelung gibt.
Die Kardiologin erzählt weiter, dass oftmals verzweifelte Patientinnen und Patienten zu ihr kämen, denen bisher niemand weiterhelfen konnte. «Das Wunderbare ist: Häufig funktioniert es tatsächlich. Manchmal bin ich selbst überrascht, wie gut es funktioniert.» Sie erzählt von einem jungen Patienten, der über Monate das Gefühl hatte, er müsse Wasser lösen. Sämtliche Ärzte, die er deswegen aufsuchte, sagten ihm, dass sie nichts fänden, dass mit ihm alles in Ordnung sei. Auch ein Psychiater habe ihm nicht weiterhelfen können. Seit er Hypnose für die Blase mache, spüre er fast nichts mehr und habe zurück zu einem normalen Alltag gefunden.
Eine Gynäkologin setzt hypnotische Sprache und Trance oft ein, wenn sie Frauen eine Spirale einsetzt. Ihre Patientinnen seien meist kooperativ und interessiert, und sie habe den Eindruck, dass diese beim Eingriff weniger Schmerzen empfinden, wenn dabei Hypnose zum Einsatz kommt. Auch sie selbst sei ruhiger geworden: «Ich komme aus einer medizinischen Erziehung, bei der es ein bisschen in den Aktivismus geht: Ich als Ärztin muss die Probleme lösen! Die Hypnose öffnet den Raum wieder mehr für Patientinnen und Patienten. Sie hilft uns, zunächst einmal zu schauen: Was erwartet die Patientin, was braucht sie wirklich, und wie kann sie selbst mithelfen.»

Den Atem beruhigen

«Ich habe keine Zeit, mit Patientinnen und Patienten einfach Atemübungen zu machen», sagt ein junger Assistenzarzt, der manchmal auf dem Notfall arbeitet. Dennoch versucht er, Hypnose in seinen Alltag einzubauen. Ein paar Mal habe er Patientinnen und Patienten tatsächlich beruhigen können, indem er sie anwies, ihre Atmung ruhig werden zu lassen und auf eine entspannende Erinnerung zu fokussieren. Die Reaktionen seien allerdings sehr unterschiedlich: «Das Spektrum reicht von sehr dankbar bis zu ‹scheiss auf diesen Strand›.»
Er solle sich durch solche negativen Erlebnisse nicht entmutigen lassen, sagt Ursula Speck. Aus ihrer Erfahrung als Anästhesistin und Hypnotherapeutin weiss sie, dass viele ein solches Angebot der Begleitung und Ablenkung in einer angstauslösenden Situation sehr schätzen. Sie betont auch, dass es in der Hypnosetherapie nicht den einen richtigen Weg, die eine richtige Technik gibt, die sich bei allen gleich gut bewährt: «Wir müssen gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten einen Weg finden, der für sie passt. Das macht unsere Arbeit sehr individuell und spannend.»

Üben, üben, üben

Dass auch ich nicht auf alles gleich gut anspreche, erfahre ich in einer der Kleingruppen-Übungen am Nachmittag, bei der zwei Kursteilnehmer nacheinander versuchen, mit mir an den Kopfschmerzen zu arbeiten, die nach dem Mittagessen eingesetzt haben. «Schmerz-Evaluation mit Metapher» heisst die Übung. Vielleicht fehlt mir dazu die Vorstellungskraft, denn es fällt mir sehr schwer, den pulsierenden Schmerz hinter meiner Stirn auf einer Leinwand zu visualisieren, ihm eine Farbe oder eine Form zu geben. Mein Übungspartner gibt nicht auf, und nach mehreren Vorschlägen von seiner Seite kann ich vor meinem inneren Auge einen Dampfkochtopf sehen. Ich schaffe es aber nicht, diesen direkt mit meinem Schmerz zu verbinden und meinen Schmerz so zu verändern. Und als ich versuche, ganz tief in meine Stirn zu gehen, um besser zu beschreiben, wie sich der Schmerz anfühlt, wird er stärker – und hat nach wie vor weder eine Farbe noch eine Form.
Mein zweiter Übungspartner wählt einen anderen Weg. Er fragt nach meinen Ressourcen, danach, was mir im Alltag Kraft gibt oder mir hilft, wenn ich Kopfschmerzen habe. Vor meinem inneren Auge taucht einmal mehr meine jüngere Tochter auf, deren fröhliches Wesen mich fast immer anzustecken vermag. Und während die Stimme mich einlädt, meinen Kopf leichter werden zu lassen, indem ich mir vorstelle, dass meine Tochter bei mir ist, dass ihr wunderbares Wesen und ihre Fröhlichkeit mich einhüllen, sehe ich mich mit ihr, fühle ihre Nase an meiner Wange, ihre feuchten Küsse auf meiner Nase, ihren zappeligen Körper in meinen Armen, sehe das Leuchten ihrer Augen, wenn sie von den Dinosauriern und Drachen erzählt, die sie sich vorstellt. Mein Kopfschmerz tritt dabei in den Hintergrund, beinahe vergesse ich ihn bis zum Ende der Übung. Ich merke: Mit dem Fokus vom Schmerz wegzugehen, könnte für mich funktionieren. Und ich nehme mir vor, meinen Kopf- und Rückenschmerzen in Zukunft nicht allzu viel Raum zu geben, wenn sie wieder auftauchen.
Im ersten Teil des Artikels [3] stellte die Autorin die Wirkungsweise der Medizinischen Hypnose und ihre Anwendung vor.
3 Huber M, Die Macht der Worte, Schweiz Ärzteztg. 2023;104(37):12-16