Wo Koordination draufsteht, steckt staatliche Administration drin

Leitartikel
Ausgabe
2022/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2022.21247
Schweiz Ärzteztg. 2022;103(46):24-25

Publiziert am 16.11.2022

EtikettenschwindelIn der Gesundheitspolitik verspricht der Titel nicht selten etwas anderes, als der dazugehörige Gesetzesentwurf vorsieht. Letztlich legt jedoch das Gesetz die Rahmenbedingungen für die Patientenversorgung und die Zusammenarbeit der Gesundheitsfachpersonen fest.
Die Zahl der gesundheitspolitischen Geschäfte im Parlament wächst immer schneller. Und obwohl die vielen neuen Regulierungen von den Akteuren in Politik und Gesundheitswesen kaum noch zu bewältigen sind [1], hat uns der Bundesrat im September erneut ein umfangreiches Gesetzespaket präsentiert.
Yvonne Gilli
Dr. med., Präsidentin der FMH

Von «Zielvorgabe» und «Erstberatung» …

Die Rede ist vom sogenannten zweiten «Kostendämpfungspaket», das der Bundesrat am 7. September 2022 ins Parlament geschickt hat. Dieses Paket hatte erstmals im August 2020 zu Beginn der Vernehmlassung für Aufsehen gesorgt, als Bundesrat Alain Berset der Öffentlichkeit obligatorische «Erstberatungsstellen» und «Zielvorgaben» präsentierte. Damals sollte dieses zweite Massnahmenpaket als indirekter Gegenvorschlag der Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei gegenübergestellt werden.
Seither hat sich vieles verändert. Nach der Vernehmlassung mit überwiegend kritischen Stimmen, löste der Bundesrat im April 2021 die «Zielvorgabe», unter der ein staatlich festgelegter Kostendeckel für die Gesundheitsausgaben zu verstehen ist, aus dem Gesetzespaket heraus, um diesen Teil allein der Kostenbremse-Initiative als indirekten Gegenvorschlag gegenüberzustellen. Die Botschaft zu diesen «Kostenzielen» verabschiedete der Bundesrat im November 2021, seither beschäftigt sie das Parlament. Die geplanten «Erstberatungsstellen» hingegen liess der Bundesrat vollständig fallen.

… zu einem wilden Potpourri

Geblieben ist nun ein vom Bundesrat überarbeitetes zweites Massnahmenpaket, das ein wildes Potpourri an Teilrevisionen im Krankenversicherungsgesetz enthält. Im Windschatten der Aufregung um «Zielvorgaben» und «Erstberatungsstellen» haben es in dieses Paket weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit Vorhaben geschafft, deren Tragweite nur die Wenigsten realisiert haben dürften.
Im zweiten Massnahmenpaket enthaltene Gesetzesartikel betreffen so unterschiedliche Dinge wie Referenztarife für ausserkantonale Behandlungen, die Kostenbeteiligung bei Mutterschaft, die elektronische Rechnungsstellung, Preismodelle und Rückerstattungen für die Medikamentenvergütung sowie die Aushebelung des Öffentlichkeitsprinzips, aber auch neue Anpassungsmöglichkeiten des Bundesrats zu den WZW-Prüfungen und neue Leistungen der Apotheker und Apothekerinnen zulasten der Grundversicherung. Inmitten dieser Sammlung inhaltlich unzusammenhängender Revisionen versteckt sich zudem eine Massnahme mit dem vielversprechenden Titel «Netzwerke zur koordinierten Versorgung». Was verbirgt sich dahinter?

… mit einem Trojanischen Pferd

Laut BAG schlägt der Bundesrat «die Stärkung der koordinierten Versorgung vor» und müsse darum die rechtlichen Grundlagen schaffen, «damit sich Gesundheitsfachpersonen in einem Netzwerk zur koordinierten Versorgung zusammenschliessen können»[2]. Wer sich hier verwundert fragt, ob die heute erfolgreichen Netzwerke ohne Rechtsgrundlage arbeiten, merkt beim Weiterlesen schnell: Der Bundesrat meint gar nicht die existierenden Netzwerkstrukturen, er meint gar nicht die heute geleistete Koordinationsarbeit, er meint auch nicht die alternativen Versicherungsmodelle, die den Prämienzahlenden heute jedes Jahr über 1000 Franken an Prämien sparen – und diese Modelle möchte er auch nicht fördern. Er möchte neue Strukturen etablieren. Er möchte einen neuen Leistungserbringer schaffen – und zwar einen, dessen Arbeit der Staat bis ins Detail bestimmt.

Ein staatliches Versorgungsmodell …

Konkret verbergen sich hinter dem im Artikel 35 Abs. 2 Bst. o KVG eingefügten neuen Leistungserbringer keine «Netzwerke», sondern «Einrichtungen», die mit angestellten Gesundheitsfachpersonen ärztliche, pflegerische und therapeutische Leistungen erbringen. Ihre ambulante Tätigkeit bräuchte nicht mehr nur eine Zulassung. Sie müssten «ihren Tätigkeitsbereich in Bezug auf Ort und Zeit der Eingriffe, in Bezug auf die erbrachten Leistungen und in Bezug auf die Patienten und Patientinnen» [3] beschränken und hierfür einen kantonalen Leistungsauftrag erhalten. Über dies plant der Bund ein enges Geflecht an Vorgaben: Zur Leitung der Einrichtungen, zur Ausbildung des Personals und zu den erbrachten Leistungen werden genauso Vorgaben gemacht wie zu sämtlichen Verträgen dieser Einrichtungen, seien sie zur Zusammenarbeit mit anderen Leistungserbringern, zum Datenaustausch, zur Qualitätssicherung oder zur Koordination und ihrer Vergütung.

… würde finanziell bevorzugt

Es geht dem Bundesrat also nicht darum, die Koordination der Patientenversorgung zwischen den heutigen Leistungserbringern zu fördern. Stattdessen soll in der ambulanten Versorgungslandschaft mit dem neuen Leistungserbringer ein neues, staatlich reguliertes Silo entstehen – das zudem eine finanzielle Vorzugsbehandlung geniessen soll. Denn die neuen Einrichtungen sollen – nach Bundesvorgaben – mit den Versicherern Verträge zur «Finanzierung der Zusatzkosten aufgrund der Koordination komplexer Fälle» [3] abschliessen können. Koordination soll also nicht über bestehende Tarifstrukturen überall dort vergütet werden, wo sie Patientinnen und Patienten benötigen, sondern nur dort, wo der Staat der Patientenversorgung engmaschige Regeln vorgibt.

… und den Versicherten aufgedrängt

Auch die Versicherten erscheinen in dieser Vorlage eher als Manövriermasse denn als selbstbestimmte Menschen. Denn Ziel der Gesetzesvorlage ist, dass sich «Versorgungsstrukturen, wie es sie heute mit den HMO-Modellen schon gibt, noch mehr verbreiten und auch für Personen zugänglich sind, die nicht eine besondere Versicherungsform gewählt haben» [4]. Tatsache ist jedoch, dass Versicherte bereits heute HMO-Modelle wählen können – es trotz hoher Prämienrabatte jedoch zu 91% nicht tun. Dem Willen der Versicherten soll nun also mit einem staatlich bevorzugten, HMO-ähnlichen Modell nachgeholfen werden – ohne dass sie dafür Prämienrabatte erhalten.

… mit nicht absehbaren Kostenfolgen

Die Kosten- und Regulierungsfolgen der geplanten tiefgreifenden Änderungen weist der Bundesrat leider nicht aus. Im Gegensatz zu den heute bestehenden Modellen, deren Kostenvorteile im Portemonnaie der Versicherten klar ablesbar sind, bestünde bei diesem Staatsmodell auch keinerlei Kostenwahrheit. Die verdächtige Ähnlichkeit der geplanten Einrichtungen mit Spitalambulanzen – der teuersten ambulanten Versorgungsform mit dem grössten Kostenwachstum – lassen vermuten, dass diese sogar deutlich teurer und nicht günstiger wären. Bestehende Netzwerke würden hingegen in ihrer Entwicklung gefährdet und die Hausarztmedizin geschwächt.

Koordination fördern – aber richtig

Hätten die Planenden im BAG Gesundheitsfachpersonen einbezogen, die sich täglich für Vernetzung einsetzen und Patientenbehandlungen koordinieren, wäre dieses überflüssige Gesetzeswerk niemals ins Parlament gelangt. Sie hätten erfahren, dass eine Stärkung der koordinierten Versorgung vor allem eine Reform wie EFAS braucht und auch die Genehmigung des TARDOC hierfür zentral wäre. Sie hätten vielleicht realisiert, dass es mehr Koordinationsleistungen braucht, keine neuen Leistungserbringer – und dass hierfür eine minimale KVG-Revision ausreichen würde. Es ist noch nicht zu spät. Die FMH wird sich zusammen mit weiteren Akteuren und Gesundheitsberufen gegenüber dem Parlament dafür einsetzen, dass die Koordination in der Patientenversorgung nicht mit überflüssigen gesetzlichen Auflagen erstickt, sondern dank angemessener Entschädigungen und optimaler Rahmenbedingungen wirksam und nachhaltig gefördert wird.
Was nach sinnvoller Reformvorlage aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen leider als kontraproduktiv.
© Stevanovicigor / Dreamstime
1 Gilli Y, Mengenausweitung der Gesundheitspolitik; Schweiz Ärzteztg. 2022;103(41):26-27; URL: https://saez.ch/article/doi/saez.2022.21134
2 Eidgenössisches Departement des Innern EDI; Bundesamt für Gesundheit BAG; Netzwerke zur koordinierten Versorgung; Faktenblatt vom 7. September 2022
3 Aus dem vorgeschlagenen neuen Gesetzestext Art. 37a «Netzwerke zur koordinierten Versorgung: besondere Voraussetzungen» bzw. Art. 48a «Verträge über die Finanzierung der Zusatzkosten in Netzwerken zur koordinierten Versorgung»
4 Schweizerische Eidgenossenschaft. Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2)