Bring- oder Holschuld?

Forum
Ausgabe
2023/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2023.21245
Schweiz Ärzteztg. 2023;103(04):22

Publiziert am 25.01.2023

Medizinethik Patientenverfügungen werden vor allem in Extremsituationen benötigt, etwa wenn eine hospitalisierte Person ihren Willen nicht mehr selbst äussern kann. Doch welche Pflichten haben Spitalärztinnen und Spitalärzte im Umgang mit diesen Dokumenten?
Im Oktober 2022 hat die FMH ihre überarbeiteten Formulare zum Erstellen einer Patientenverfügung an dieser Stelle publiziert und diese auf ihrer Homepage aufgeschaltet [1]. Eine entscheidende Neuerung ist, dass sowohl in der Kurz- als auch in der Langfassung Raum für eine Beschreibung der eigenen Wertehaltung vorgesehen ist. Im Falle einer gesundheitlichen Krise mit Verlust der Entscheidungsfähigkeit ist es wegweisend, was eine Patientin oder ein Patient über Krankheit und Sterben denkt, insbesondere welche Vorstellung von Lebensqualität vorherrscht. Die Lektüre einer solchen Standortbestimmung ist für das Behandlungsteam oft wertvoller als Kreuzchen zu schwarz-weiss-Situationen in einem Formular. Viele Menschen sind wahrscheinlich überfordert, solche Selbstreflexionen zu formulieren. Abgegebene Formulare bleiben deshalb oft im «to-do»-Stapel liegen. Eine fachliche Beratung – oder mindestens die Gegenlektüre der Patientenverfügung durch eine Fachperson – ist deshalb dringend empfohlen. Dies betont auch Caroline Hartmann im Begleitartikel zu den neuen FMH-Formularen [2].
Anteil Krankenakten mit einer hinterlegten Patientenverfügung. Auswertung der letzten drei Jahre (bis 16.8.2022) im Luzerner Kantonsspital, Luzern. Säuglinge und Kinder wurden nicht berücksichtigt. Die Gruppierung erfolgte nach Fachrichtungen.

Oft gehört, wenig genutzt

Die Patientenverfügung ist in breiten Bevölkerungskreisen bekannt. Trotzdem hat nur eine Minderheit eine solche erstellt. Dies zeigt eine Umfrage, die 2017 im Auftrag von Pro Senectute Schweiz durchgeführt wurde. Demnach kennen 45% der über 65-Jährigen in der Deutschschweiz die Möglichkeit einer Patientenverfügung gut, 31% haben zumindest schon davon gehört, aber nur 27% haben eine solche ausgefüllt [3]. In Zeiten der Pandemie dürfte der Anteil einiges höher liegen.
Sind Patientenverfügungen in den Krankenakten auch verfügbar? Eine Analyse mit Hilfe des neuen Klinikinformationssystems des Luzerner Kantonsspitals LUKIS/EPIC erlaubt dazu eine Aussage [4]. In durchschnittlich 12% der Krankenakten hospitalisierter Erwachsener wurde eine Patientenverfügung hinterlegt. In den medizinisch orientierten Abteilungen liegt der Anteil leicht höher als bei den interventionellen Disziplinen. Den höchsten Anteil finden wir in der Augenklinik, den tiefsten in der Frauenklinik. Das mag in der Altersstruktur der dort Hospitalisierten liegen (siehe Abbildung). Wie oft eine Patientenverfügung tatsächlich eine therapeutische Entscheidung bei Urteilsunfähigen beeinflusst hat, lässt sich damit nicht sagen.

Aufgaben der Ärzteschaft im Spital

Für Ärztinnen und Ärzte besteht gemäss ZGB Art. 372 nur bei Urteilsunfähigen die Verpflichtung aktiv nach dem Vorhandensein einer Patientenverfügung zu forschen. Vorbehalten sind Notfallsituationen: Im Zweifel für das Leben! Im Normallfall gilt die «Bringschuld». Das heisst, eine Patientin oder ein Patient soll bei Spitaleintritt die Patientenverfügung mitbringen, um diese in die Krankenakte aufzunehmen.
Wird eine Verfügung beigebracht, so muss diese gelesen und deren Inhalt bei Bedarf im Gespräch – allenfalls gemäss ZGB 378 mit der gesetzlichen Stellvertretung – präzisiert werden. Besonders heikel sind Einträge wie «keine Reanimation» oder «keine Intensivstation». Grundsätzlich muss der Patientenverfügung Folge geleistet werden. Von einer Patientenverfügung abweichende Entscheide müssen begründet und dokumentiert werden. Zum Beispiel, wenn eine Verfügung nicht – oder nicht mehr – auf die aktuelle Krankheitssituation zutrifft oder Zweifel bestehen, ob das dem aktuellen Willen entspricht.

Aufklärung und Unterstützung

Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung sind aufgefordert, ihre Patientinnen und Patienten vermehrt auf die Bedeutung einer Patientenverfügung aufmerksam zu machen. Das Angebot, sie bei deren Abfassung fachlich zu unterstützen oder das erarbeitete Dokument zu besprechen, erhöht die Chance, dass eine empfängergerechte (im Entscheidungsfall hilfreiche) Verfügung resultiert. Ärztinnen und Ärzte der stationären Versorgung sind aufgefordert, Patientenverfügungen nicht erst bei eingetretener Urteilsunfähigkeit zu lesen, sondern frühzeitig interpretationsbedürftige Passagen im Gespräch zu klären. Das bioethische Prinzip der Autonomie fordert, dass bei fehlender Entscheidungsmöglichkeit möglichst nach dem Willen betroffener Menschen medizinisch gehandelt wird.
Prof. Dr. med. Gregor Schubiger, Ethik-Forum, Luzerner Kantonsspital
Dr. med. Guido Schüpfer, CMO Luzerner Kantonsspital
Lesen Sie auch den Artikel zum Thema auf Seite 50.